
Eine der folgenreichsten und dramatischsten Fehlinformationen, die, obwohl zu Genüge widerlegt, immer noch eine Grundlage für öffentliche Meinung und politisches Handeln bildet, ist der Mythos von der Überbevölkerung. Tief verankert und unhinterfragt ist das „Wissen“ darum, dass immer mehr Menschen den Planeten bevölkern, und dass diese Entwicklung in Armut, Kriege und Hungersnöte münde.
Der Mensch als Problem für sich selbst, das ist die altmodische Variante des Überbevölkerungstopos: Eine vordergründig menschenfreundliche Haltung, schließlich ist man um der Menschheit selbst willen davon überzeugt, dass weniger mehr bzw. besser sei.
Mit dem 21. Jahrhundert kam zunehmend eine andere Spielart dieser Idee auf: Prophetisch hatte der Film The Matrix 1999 dem bösen Agenten Smith die Worte in den Mund gelegt, dass der Mensch ein Virus sei, „eine Krankheit. Das Geschwür dieses Planeten.“ Was damals schockierend klang, wird heute mehr oder minder offen proklamiert: der Mensch als Schädling, vor dem man den Planeten respektive das Klima schützen müsse.
Doch gleich, ob aus Philanthropie oder Klimaschutz: Beiden Annahmen liegt ein Irrtum zugrunde, der sich unausrottbar in der allgemeinen Wahrnehmung festgesetzt hat. Anders als oft angenommen: Es gibt weder Bevölkerungsexplosion noch Überbevölkerung. Die Geburtenraten sinken, sie sinken dramatisch, oder stagnieren, wie etwa in vielen Ländern Europas, auf erschreckend niedrigem Niveau.
Kurz war die Allgemeinheit irritiert, als 2015 Schlagzeilen aufgriffen, dass China die Ein-Kind-Politik beenden würde. Diese menschenverachtendste Form der Planwirtschaft hatte sich als Sackgasse erwiesen, die Chinesen hatten erkannt, dass der demografische Wandel zum Problem würde. Doch zu einem Umdenken hat auch diese Tatsache nicht geführt, die Botschaft kam nicht an. Ebenso wenig die durchaus verfügbaren Zahlen und Daten zur Entwicklung der Weltbevölkerung, die deutlich machen, dass nicht zu viele, sondern zu wenige Menschen das Problem sind.
Immer noch etwa können Organisationen wie die „Deutsche Stiftung Weltbevölkerung“ mit dem Schreckgespinst Überbevölkerung Gelder generieren, um im globalen Süden Geburtenkotrolle und Empfängnisverhütung zu propagieren – alles im Sinne der dort lebenden Menschen, versteht sich –, obwohl die Geburtenraten überall sinken. Selbst auf dem afrikanischen Kontinent, mit noch hohen Raten, sinken diese kontinuierlich: Das in Teilen auch latent rassistische Bild, teils gepaart mit der Angst vor einer „Überflutung“, entspricht nicht den sich abzeichnenden Entwicklungen, auch wenn Migrationsströme das Gegenteil suggerieren mögen.
Für die OSZE-Region nimmt sich nun die Sonderbeauftragte der Parlamentarischen Versammlung der OSZE für demografischen Wandel und Sicherheit, Gudrun Kugler, dieses Themas an: In einem knappen, übersichtlichen Bericht fasst sie die demografische Situation im OSZE-Raum zusammen, macht Ursachen und Folgen der niedrigen Geburtenraten deutlich, und skizziert Lösungen.
„Es gilt, die Entwicklungen beim demografischen Wandel und deren Auswirkungen auf die OSZE-Region als politischen Weckruf ernst zu nehmen“, sagte Kugler bei der Vorstellung des Berichts. Und das ist er tatsächlich: ein dringend notwendiger Weckruf, und ein Aufruf dazu, sich wieder mit Realität statt mit Ideologie zu befassen, und auch etablierte Glaubenssätze zu hinterfragen.
Die konstruktive, auf das Wohl der Gesellschaften ausgerichtete Stoßrichtung des Berichts wirkt geradezu erfrischend, insbesondere für bundesdeutsche Leser, denen in nationalen Belangen kaum je etwas vorgesetzt wird, das nicht stur problemorientiert ist, und vor allem der Implementierung von Ideologien dient. Dass sich Politik faktenbasiert am Gemeinwohl orientiert, und letztlich dadurch auch das individuelle Wohlergehen zu befördern hat, ist angesichts einer sich lediglich selbstbereichernden Politikerkaste keine Selbstverständlichkeit.
Der Bericht „Demografischer Wandel in der OSZE-Region: Analyse, Auswirkungen und mögliche Lösungen eines Megatrends, der die Gesellschaft verändert“, bringt die Herausforderungen auf den Punkt: Ökonomische Instabilität, die insbesondere jüngere Generationen belastet, soziale Probleme wie zunehmende Einsamkeit und Depressionen, die alle Altersgruppen betreffen, sowie im Alter einerseits die Frage nach sinnvoller Gestaltung der längeren Lebenszeit und andererseits das Problem von Versorgungs- und Betreuungsengpässen; schließlich die aufkommenden ethischen Probleme durch Euthanasie und assistierten Suizid; das sind nur einige Aspekte, die das abstrakte Thema Demografie greifbar machen, und zeigen, warum es die Lebensrealität aller konkret betrifft.
Diese Darlegungen sind somit nicht nur für Politiker, sondern für alle lesenswert, um zu verstehen, dass es hier nicht bloß um internationale oder nationale wirtschaftliche Interessen geht, sondern dass es ein breites gesellschaftliches Umdenken geben muss.
Zugleich wahrt der Bericht den Respekt vor den Lebensentscheidungen des Einzelnen. Er legt nachvollziehbar dar, dass nicht in erster Linie Frauen zu wenige Kinder gebären, sondern zu wenige Frauen Kinder. Dies ist insbesondere für Deutschland ein wichtiger Hinweis, um Vorbehalte gegen die Thematisierung der Geburtenrate zu vermindern: Immer noch ist in Deutschland der Vorwurf, man wolle Frauen zu Gebärmaschinen degradieren, reflexhaft zur Hand, ebenso wie unangemessene Vergleiche zur Nazizeit: Das Mutterkreuz, die Reduzierung der Frau auf ein „Muttertier“, und selbst Lebensborn-Reminiszenzen schwingen schemenhaft mit; intuitiv wird die Instrumentalisierung von Mutterschaft als Mittel zum Zweck – zurecht – abgelehnt, allerdings wird dies oft generell bereits unterstellt, sobald der Begriff aufkommt.
Umso wichtiger also, dass der Bericht darlegt, dass zwar auch wirtschaftliche und politische Interessen durch eine höhere Geburtenrate gewahrt werden, dass der Einfluss auf Gesellschaft und Individuen aber noch viel unmittelbarer spürbar ist: Er zeigt auf, dass viele Menschen keine Kinder bekommen würden, obwohl sie gern Kinder hätten, und dass zudem viele Menschen weniger Kinder bekämen, als sie sich wünschen. Ein wichtiges Korrektiv: Unter anderem durch lange Ausbildungszeiten, Schwierigkeiten bei der Partnersuche und bei der Bildung stabiler Beziehungen wird jungen Menschen die Gestaltungsfreiheit genommen, rechtzeitig echte „Familienplanung“ zu betreiben – also nicht eine, die im Grunde lediglich auf Kindervermeidung zielt. Das Ergebnis ist oftmals Leidensdruck durch ungewollte Kinderlosigkeit, der aber selten offen angesprochen wird – sei es aufgrund der intimen Natur der Sache, oder, weil dieser Sachverhalt den Thesen der herrschenden Ideologien nicht entspricht. Solche Einsichten könnten zur Enttabuisierung des Themas in Deutschland beitragen.
Nicht zuletzt spricht der Bericht die Probleme an, die durch Massenmigration entstehen: Er erinnert daran, dass auch Migranten altern, sowie dass sich ihre Geburtenraten der Gesamtbevölkerung mit der Zeit angleichen: Selbst abseits der – ebenfalls genannten – Problemfelder Integration, Sicherheit und gesellschaftliche Stabilität bietet die Abfederung der niedrigen Geburtenrate durch Einwanderer also nur eine kurzfristige Scheinlösung. Auch der sogenannte Brain Drain wird als Problem erkannt: Migration benachteiligt die Herkunftsländer oder -regionen, die ihre fähigsten Arbeitskräfte verlieren.
Generell ruft der Bericht dazu auf, das Heil nicht in kurzfristigen Maßnahmen zu suchen: „Die Situation ist zu besorgniserregend, als dass man nur die kurze Zeitspanne einer Legislaturperiode in Betracht ziehen könnte. Erforderliche langfristige Maßnahmen müssen Vorrang haben vor kurzfristigen Erfolgen und dem Bestreben, wiedergewählt zu werden.“
Lösungsansätze werden teils in Form bereits bestehender Programme – etwa zur Bekämpfung von Einsamkeit – vorgestellt, teils in Form von Maßnahmenbündeln, die von der Stabilisierung und Organisation des ländlichen bzw. von Entvölkerung betroffenen Raums bis hin zur Überprüfung des Bildungswesens auf seine Familientauglichkeit reichen. Politische Maßnahmen zur Förderung von Familien, wie etwa Steuererleichterungen, könnten die Entstehung einer kinderfreundlichen Gesellschaft befördern, aber der Bericht nennt auch an sich banale Stellschrauben, wie etwa erhöhte Sichtbarkeit von Kindern und Familienleben: Sind Kinder in den Medien, der Kultur, dem öffentlichen Raum präsent, werden sie auch eher als Option für den eigenen Lebensentwurf wahrgenommen, wird Familie als wünschenswerte Bereicherung des eigenen Lebens bewusst.
„Demografischer Wandel ist nicht nur ein langfristiger Trend – er ist eine gegenwärtige Realität, die ein breites gesellschaftliches Bewusstsein und Engagement erfordert, einen kulturellen Wandel in der Einstellung zur Familiengründung sowie gezielte politische Maßnahmen“, so Gudrun Kugler: Lediglich 22 Seiten braucht die Sonderbeauftragte, um das Thema konzentriert den Verantwortungsträgern der OSZE-Region zu präsentieren, ohne seine Komplexität zu unterschlagen. Prägnanter geht es wohl kaum: Jetzt ist es an der Politik, und, wie der Bericht zeigt, an jedem Einzelnen, sich der Problematik anzunehmen.