
Eine karge Ebene, im Hintergrund Berge. Brauntöne dominieren das Bild. Männer in langen, traditionellen Gewändern führen eine Frau heran. Sie trägt ein rotes Kleid mit goldenen Stickereien. Ein sandfarbenes Kopftuch bedeckt Haar und Schultern. Ihr Gang ist aufrecht, gefasst – doch sie muss wissen, was kommt. Wohl einen Koran in den Händen haltend, bittet sie einen der Männer, sieben letzte Schritte mit ihr zu gehen. Schließlich bleibt auch ihr Begleiter zurück. Allein steht sie in der Wüste. Ein Mann im Kaftan richtet eine Pistole auf ihren Rücken. Dann peitschen Schüsse. Einer. Zwei. Beim dritten bricht sie zusammen. Die Kamera wird auf den blutüberströmten Körper ihres bereits exekutierten Liebhabers gerichtet.
Anschließend wird weiter auf beide Leichnahme geschossen. Ein „herzzerreißender“ Anblick, beschreibt die Frauenrechtsaktivistin Zahra Shah aus Karatschi das Video. Sie fordert: „Die Grausamkeit der Ehrenmorde muss aufhören.“
Den in einem Video festgehaltenen Mord an dem pakistanischen Paar verurteilte der Gouverneur der Region Belutschistan, Sarfraz Bugti, als „abscheulich“. Der Politiker Bilawal Bhutto Zardari, Sohn der früheren Premierministerin Benazir Bhutto, belegte es mit dem Begriff „geschlechtspezifischer Terrorismus“. In vielen Orten Pakistans kam es zu spontanen Demonstrationen und nunmehr zu gut einem Dutzend Verhaftungen vermutlicher Tatbeteiligter.
Entgegen vieler Berichte in den sozialen Medien handelt es sich dabei allerdings nicht um ein junges Paar, das heimlich geheiratet hatte, sondern um einen verheirateten 55-jährigen vierfachen Familienvater und eine 38-jährige Frau, ihrerseits Mutter von fünf Kindern. Beide gehörten unterschiedlichen Stämmen an und hatten über Jahre ein Verhältnis miteinander, was sich in ihrem Heimatdorf herumgesprochen hatte. Zuletzt waren sie 25 Tage zusammen verreist. Nach noch zu bestätigenden Angaben soll daraufhin der Bruder der Frau, Jalal Satakzai, mit einigen Freunden zusammen den Tod der beiden beschlossen haben. Anderen Medienberichten zufolge wurde in einem Stammesrat ihr Tod beschlossen.
Jedes Jahr werden in Pakistan, zumeist Frauen, von Verwandten oder ihnen bekannten Männern getötet, um die Familienehre wiederherzustellen. Allein im vergangenen Jahr wurden mindestens 405 Fälle bekannt, die Dunkelziffer dürfte aber weitaus höher liegen. Da die Taten mit Zustimmung der jeweiligen Familien stattfinden, fehlt es oftmals an Anzeigen. So gilt das Prinzip „wo kein Kläger, da kein Richter“.
Zumeist geht es um heimlich geschlossene Ehen. Aber auch eine Weigerung zu heiraten oder einen persönlichen, als unehrenhaft empfundenen TikTok-Account zu löschen, kann Auslöser für einen Beschluss der „Jirga“ sein. Die Jirga ist eine Versammlung von Stammesführern, die nach dem paschtunischen Sozialgesetzbuch (Paschtunwali) eine gemeinsame Entscheidung darüber trifft, wie eine Streitigkeit zwischen Paschtunen beigelegt oder die Ehre einer Familie wiederhergestellt wird.
Insbesondere in der Region Belutschistan, in der sich dieser Doppelmord ereignete, und die sich über die drei Länder Iran, Afghanistan und Pakistan erstreckt, ist das Jirga-System weitverbreitet. Belutschistan gilt vielen Pakistanern als rückständiger Teil des Landes, vor allem bekannt durch die erschreckend hohe Zahl von Analphabeten. Es ist eine Region, in der die Polizei bisher eher halbherzig agiert und in Streitigkeiten denjenigen Recht gibt, die am meisten an sie zahlen. Doch nach dem viralen Video scheint sich der Druck zu erhöhen, die Landesgesetzgebung konsequenter durchzusetzen.
Bereits 2023 erklärte Amnesty International in einem Bericht: „Das anhaltende Versagen der pakistanischen Regierung, die extralegale Macht der Jirgas oder Stammesräte einzudämmen, die parallele Rechtssysteme betreiben und patriarchalische Gewalt ungestraft fortsetzen, ist äußerst besorgniserregend.“ Es reiche nicht aus, Menschen nach solchen Angriffen zu verhaften. Die Behörden müssten die Straflosigkeit für Gewalt beenden und die sogenannten Dorf- und Stammesräte abschaffen, die solche Verbrechen vorschreiben.
Unter den jetzt für den Doppelmord Verhafteten befindet sich nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP auch der Stammesälteste, der im Ältestenrat die Morde angeordnet hatte, sowie ein Cousin der Frau, der verdächtigt wird, die Tat ausgeführt zu haben. Die Mutter der ermordeten Banu Bibi wurde ebenfalls verhaftet. Sie ist geständig, ihren Sohn Jalal Satakzai angewiesen zu haben, die Ermordung seiner Schwester in die Wege zu leiten.
Da Gouverneur Sarfraz Bugti öffentlich verkündet hat, alle Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen, die Familien der Opfer die Morde aber nicht anzeigen wollen, musste die Regierung den für Pakistan ungewöhnlichen Schritt unternehmen, in diesem Fall selbst als Kläger aufzutreten und Untersuchungen in die Wege zu leiten.
In der Region Belutschistan hat die Zentralregierung wenig Macht. Separatistengruppen operieren im iranisch-pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Stämme dominieren das gesellschaftliche Leben. Die Untersuchung und Anzeige von Verbrechen obliegt der Polizei, die gerade in Belutschistan auf die Untersuchung von Ehrenmorden verzichtet. Die Öffentliche Anwaltschaft (Public Persecution Service) kann keine eigenen Untersuchungen anstrengen oder gar die Untersuchungen der Polizei beaufsichtigen, sondern nur die Untersuchungen der Polizei aufnehmen. Staatsanwaltschaftliche Untersuchungen wie in diesem Fall sind sehr selten.
Mittlerweile sind in Pakistan einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht worden, die dem sozialen Wandel und der sehr aktiven Frauenrechtsbewegung zuzuschreiben sind. So können sich Täter nicht mehr gegen die Zahlung eines „Blutgeldes“ von der Familie des Opfers begnadigen lassen und es drohen mindestens 25 Jahre Haft für Ehrenmorde. Auch versucht die Zentralregierung das System der Jirga zurückzudrängen – doch zu tief ist es in der Stammesgesellschaft verankert, als dass Ehrenmorde, Friedensehen oder Paralleljustiz sich effektiv bekämpfen ließen.