Petition gegen NRW-Abitur: Es gibt keinen Anspruch auf Wohlfühlbildung

vor 29 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Die Allgemeine Hochschulreife soll belegen, dass ein junger Erwachsener dazu fähig ist, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Der Bildungsweg, der zum Abitur führt, soll genau darauf vorbereiten: auf wissenschaftliches Denken.

Dass Beschwerden über angeblich zu schwierige Prüfungsaufgaben eingehen, ist nichts Besonderes. Mal werden die Anforderungen in Deutsch, mal in Mathematik als zu hoch empfunden. Dabei ist der Bildungsstand deutscher Schüler nicht nur gefühlt im Sinkflug begriffen. Studien belegen das, Ausbildungsbetriebe und Hochschulprofessoren beklagen es.

Schaut man sich das Niveau an, auf dem mittlerweile in diesem Land selbst unter „Eliten“ Debatten geführt werden – oder mangels Befähigung eben auch nicht geführt werden –, so sollte man eher danach streben, den Schwierigkeitsgrad der Schulabschlüsse zu erhöhen, wobei die Schüler selbstredend dann auch adäquat vorbereitet werden müssten. Zumal die Bildung, die durch das Abitur erworben wird, wie gesagt spezifisch zu wissenschaftlichem Arbeiten hinführen soll: Das ist nicht jedermanns Sache, und keinesfalls ist „dumm“ oder ungebildet, wer diesbezüglich kein Talent hat oder kein Interesse daran zeigt.

Dass viele Menschen nicht begriffen haben, was wissenschaftliches Denken bedeutet, belegt eine Online-Petition, die Nachkorrekturen bezüglich der Abiturprüfungen im Fach Englisch fordert, und die mittlerweile über 12.500 Unterzeichner gefunden hat.

Darin wird unter anderem kritisiert, dass die zu bearbeitenden Texte „sprachlich und inhaltlich schwierige Passagen“ beinhalteten, „die den Eindruck einer realitätsfernen Erwartungshaltung vermitteln. Statt eine faire Überprüfung der erlernten Kompetenzen zu ermöglichen, waren viele Prüflinge überfordert.“

Zu Deutsch: Die Aufgaben erforderten offenbar eigenständiges Denken, das über Erlerntes hinausweist. Mit der Wiedergabe bereits gelernter Inhalte war es nicht getan. Nun: Genau das muss eine Abiturprüfung abfragen, wenn sie nicht überflüssig sein soll.

Denn wer am Ende seiner Schullaufbahn nicht dazu fähig ist, eigenständig Gedanken zu entwickeln, kann kein Studium aufnehmen, und verfügt nicht über eine „Hochschulreife“, auch, wenn sie ihm zugesprochen werden sollte. Wenn die wissenschaftliche Sphäre in Deutschland etwas nicht braucht, dann mehr „Akademiker“, die lediglich Thesen wiederkäuen, und nicht dazu im Stande sind, sicher geglaubtes Wissen zu hinterfragen. Eine Abiturprüfung, die einem besseren Vokabeltest gleicht, wäre nichts wert.

Allerdings verdient die Überforderung der Schüler keinen Spott: Wer weiß, ob ihnen die Lehrer vermittelt haben, wie wissenschaftliches Denken und Arbeiten funktioniert? Fast jeder dürfte wohl in Erinnerung an seine eigene Schulzeit vor Augen haben, dass durchaus nicht alle Lehrer diesen Anspruch einlösen.

Auch ein weiterer Kritikpunkt ist besorgniserregend: Empört monieren die Verfasser der Petition, dass im „Prüfungstext das rassistische n-Wort [Hervorhebung original] verwendet [wurde], ohne Vorwarnung und ohne Rücksicht auf die emotionale Belastung, die damit für Betroffene verbunden ist.“

Nun gibt es verschiedene Arten der Betroffenheit: Es ist in gewissen Kreisen üblich geworden, Empfindsamkeit und das, was man heutzutage als „Achtsamkeit“ bezeichnet, pauschal mit Spott zu überziehen. Dabei ist es durchaus achtbar, wenn Menschen angesichts von Roheit, Schlechtigkeit und Bosheit „betroffen“ sind. Tatsächlich sind wir häufig gleichgültig und abgestumpft gegenüber den Übeln, die in der Welt grassieren.

Bloß: Echte Empfindsamkeit und Überspanntheit sind nicht dasselbe. Echte Empfindsamkeit ist nicht mit der Anspruchshaltung verbunden, die hier deutlich wird, nämlich der, mit den Dingen, die uns unangenehm sind, nicht konfrontiert zu werden. Das ist das eigentliche Problem, nicht, dass Schüler sensibel auf Ungerechtigkeiten oder Hass reagieren.

Die Sensibilität wird nicht reflektiert, und viel zu häufig nur in Bezug auf das eigene Unwohlsein bezogen, anstatt auf die Ungerechtigkeit, die einen ja nicht selbst betrifft, sondern die sich gegen andere richtet.

Es besteht aber kein Anspruch auf Wohlfühlbildung. Im Gegenteil: Bildung soll den eigenen Horizont erweitern, in dem man über ihn hinausgeführt wird. Das ist häufig unangenehm. Weil es Arbeit und Mühe kostet, und weil es, sobald man abstrahieren oder etwas nachvollziehen muss, auch mit einer gewissen Selbstverleugnung einhergeht. Wer aus seiner Komfortzone nie heraustritt, wird auch nicht erfahren, was sich außerhalb dieser Zone befindet. Wie aber soll, wer gar kein Wissen erwerben will, „Wissen schaffen“?

Nun ist die Verwendung von Worten wie „negro“ oder die Beschimpfung als „nigger“ in zeitgenössischen Texten einigermaßen regelmäßig anzutreffen. Letztere beleidigende und herabwürdigende Bezeichnung wird nicht zuletzt eingesetzt, um gerade die Unmenschlichkeit und den Rassismus der Charaktere, die diesen Ausdruck benutzen, hervorzuheben; erstere Bezeichnung war zu bestimmten Zeiten schlicht üblich.

Wer sich hier „betroffen“ fühlt, hat also nicht einmal eine der grundlegendsten Kompetenzen erworben, die Bildung vermitteln sollte, und zwar die der Unterscheidung zwischen der Darstellung oder Beschreibung eines Inhalts und seiner Deutung, die unter anderem von der Haltung des Darlegenden und des Rezipienten beeinflusst ist.

Jeder Mensch, besonders aber wer mit Quellen arbeitet, muss dazu in der Lage sein, Inhalte aufzunehmen, die ihm missfallen, und sie zu durchdringen, unabhängig von der eigenen Haltung dazu.

Wenn Schüler von ihrer Umwelt derart indoktriniert wurden, dass sie nicht mehr dazu in der Lage sind, zu verstehen, dass die Verwendung des Begriffs „Neger“ nicht der Anwendung dieses Wortes gleichkommt, wenn ihnen eingeredet wurde, dass sie auf dieses Wort mit persönlicher Betroffenheit zu reagieren hätten, dann sieht es für die Zukunft der deutschen akademischen Bildung düster aus; und nicht nur das: Die Unfähigkeit zu Diskurs, dazu, eine Debatte zu führen, und Meinungen, die der eigenen widersprechen, aufnehmen und nachvollziehen zu können, strahlt auch in die Gesellschaft ab.

Sachliche Konfrontation wird verunmöglicht, wenn alle mit einem emotionalen Airbag herumlaufen, der jeglichen unangenehmen Inhalt mit dem Hinweis auf persönliche Befindlichkeit abblockt – so sehr natürlich darauf zu achten ist, nicht bewusst zu verletzen, zu demütigen und zu diffamieren: Zu echter Bildung gehört auch, die Grenzen von Anstand, sozialer Konvention und Freundlichkeit zu achten, dem jeweiligen Kontext entsprechend.

Ohne emotionale Resilienz ist indes die Aufrechterhaltung einer pluralen und toleranten Gesellschaft schlicht und einfach nicht möglich. Insofern verdient es die Petition, ernst genommen zu werden: Es ist ein ernstliches Warnsignal, dass die Verengung und Emotionalisierung des akademischen Diskurses offensichtlich voll auf die Schulen durchschlägt.

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