
„Vorbereitung eines gewaltsamen Staatsstreichs“ – so lautet im Reichsbürger-Prozess in Frankfurt der Vorwurf der Bundesanwaltschaft gegen neun mutmaßliche Mitglieder der sogenannten Reuß-Gruppe. Doch was, wenn es nie konkrete Pläne gab – und die angebliche terroristische Vereinigung nur ein Hirngespinst war?
Prof. Dr. Schwab, der Verteidiger der Angeklagten Johanna F., spricht im Interview mit NIUS von einem „Phantomverbrechen“. Er erklärt, warum die Vorwürfe seiner Einschätzung nach juristisch ins Leere laufen. Im Kern geht es darum, ob den Angeklagten lediglich eine „psychische Beihilfe“ für eine nicht existierende, aber theoretisch kriminelle Organisation vorgeworfen wird – und damit um den „untauglichen Versuch“ einer Straftat. Vor diesem Hintergrund stellt sich ihm die Frage, ob hier nicht vielmehr ein „politisches Exempel“ statuiert werden soll.
NIUS: Sie nutzen den Begriff „Phantomverbrechen“ für das, was im Reichsbürgerprozess in Frankfurt angeklagt wird. Was meinen Sie damit?
Prof. Dr. Schwab: Ich habe mich intensiv mit der einschlägigen Rechtsprechung beschäftigt und wende sie zunächst einmal auf diejenige Version des Tatgeschehens an, die in der Beweisaufnahme und in den Einlassungen einzelner Angeklagter bisher zur Sprache gekommen ist. Wobei ich einschränken muss: Ich kenne die letzten Verhandlungstage nicht im Detail, insbesondere nicht, was der Zeuge Rohn ausgesagt hat, dem angeblich ein Mitangeklagter in diesem Verfahren, Hans-Joachim Heuer, Dinge erzählt hat, die für die Tatvorwürfe in diesem Verfahren von Bedeutung sein sollen. Ich bin nur Wahlverteidiger und nicht bei allen Hauptverhandlungsterminen anwesend.
NIUS: Was ergibt sich denn aus dem, was Sie bislang überblicken?
Prof. Dr. Schwab: Einige Angeklagte haben sich dahingehend eingelassen, dass sie selbst gar nichts unternehmen wollten. Vielmehr sollte eine sogenannte „Allianz“ – aus welchen „edlen Kämpfern“ auch immer – die bestehenden Strukturen beseitigen. Für die Zeit danach habe diese „Allianz“ nach Kooperationspartnern für den Wiederaufbau gesucht. Dabei sei auch die Frage aufgekommen, ob die Allianz mit der Reuß-Gruppe zusammenarbeiten wolle.
Prof. Dr. Martin Schwab hat einen Lehrstuhl an der Universität Bielefeld inne.
Nach meinem Eindruck waren nicht alle, die als angebliche Mitglieder der Reuß-Gruppe angeklagt sind, in die Pläne einer solchen Zusammenarbeit mit dieser sogenannten „Allianz“ eingeweiht. Ich lege meiner nachfolgenden juristischen Bewertung das Ergebnis eben dieser Einlassungen zugrunde.
NIUS: Verstanden. Wenn man diesen Sachverhalt nun nimmt – wie lässt sich das juristisch einordnen?
Prof. Dr. Schwab: Im Kern geht es darum, dass die Reuß-Gruppe allenfalls überlegte, nach einem Umsturz beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Wenn man das unter die beiden wichtigsten angeklagten Straftatbestände – § 83 Absatz 1 StGB (Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen den Bund) und § 129a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung) – subsumiert, entsteht ein differenziertes Bild.
NIUS: Können Sie das erläutern?
Prof. Dr. Schwab: Fangen wir mit § 129a StGB an. Die Frage ist: Hätten die Angeklagten Mitglieder dieser Allianz werden sollen? Und die Antwort lautet: Nein. Nach ihrer eigenen Vorstellung hätten sie dort keine Rolle gespielt. Sie sollten erst tätig werden, wenn die Allianz ihre „Befreiungsmission“ abgeschlossen hätte. Es ging also nicht um aktives Mitwirken – sondern bestenfalls um spätere Unterstützung.
NIUS: Und das macht rechtlich den Unterschied?
Prof. Dr. Schwab: Jetzt beginnen die juristischen Feinheiten. Eine terroristische Vereinigung bildet nur, wer vorhat, zusammen mit anderen ganz bestimmte, in § 129a StGB abschließend aufgelistete Straftaten zu begehen. Wir sprechen von sogenannten Katalogtaten. Bei diesen Katalogtaten handelt es sich um besonders schwere Straftaten. Und Mitglied einer terroristischen Vereinigung ist nur, wer die Ziele einer solchen Vereinigung von innen heraus fördert, sich also am Verbandsleben beteiligt und im Sinne der Vereinigung betätigt. Die „Allianz“ wäre, wenn es sie wirklich gegeben hätte, ganz klar eine solche terroristische Vereinigung gewesen.
Die Angeklagten, die an das Eingreifen einer „Allianz“ glaubten, trugen sich jedoch mit der Vorstellung, dass sie in dieser Allianz nichts zu sagen hatten. Sie sollten weder am Verbandsleben der „Allianz“ teilnehmen, noch sollten sie sonst irgendwie in die „Allianz“ eingegliedert sein, noch sollten sie sich im Sinne der „Allianz“ betätigen. Sie sollten also selbst gar keine Katalogtaten begehen. Insbesondere kann man eine terroristische Vereinigung im Sinne des § 129a StGB nicht mit dem Ziel gründen, eine andere terroristische Vereinigung zu unterstützen. Es ist zwar tatsächlich nach § 129a Abs. 5 StGB strafbar, eine fremde terroristische Vereinigung von außen zu unterstützen. Aber § 129a Abs. 5 StGB ist keine Katalogtat
NIUS: Was wäre dann überhaupt noch strafbar?
Prof. Dr. Schwab: Wir reden bei der Reuß-Gruppe – wenn man die insgesamt 26 Angeklagten denn überhaupt als „Gruppe“ bezeichnen will – alles in allem nicht von einer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, sondern von der Unterstützung einer fremden terroristischen Vereinigung mit dem Namen „Allianz“. Eine solche Unterstützung wäre tatsächlich nach § 129a Abs. 5 StGB strafbar.
Jetzt kommt aber eine wichtige Einschränkung: Diese sogenannte „Allianz“ hat es nie gegeben. Das heißt, man wollte – wenn überhaupt – eine Gruppe unterstützen, die gar nicht existierte. Das nennt man einen untauglichen Versuch.
Umzäunt von NATO-Draht wird den betagten Angeklagten in Frankfurt-Sossenheim in einem extra errichteten Gebäude der Prozess gemacht.
NIUS: Und der ist straflos?
Prof. Dr. Schwab: Nicht zwingend. Ein Versuch ist nur dann strafbar, wenn es sich um ein Verbrechen handelt – also ab einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr – oder, bei einem Vergehen, wenn die Versuchsstrafbarkeit ausdrücklich geregelt ist. § 129a Absatz 5 StGB normiert eine Mindestfreiheitsstrafe von weniger als einem Jahr und ordnet keine Strafbarkeit des Versuchs an. Der untaugliche Versuch der Unterstützung einer fremden terroristischen Vereinigung ist also straflos.
NIUS: Und selbst wenn dieser Versuch strafbar wäre – wäre denn überhaupt eine ernsthafte Unterstützung beabsichtigt gewesen?
Prof. Dr. Schwab: Auch das ist fraglich. Ich habe dazu die Rechtsprechung recherchiert. Wenn es nur um psychische Unterstützung geht – also bloße Zusagen, ohne Taten –, dann muss das für den Tatentschluss der terroristischen Vereinigung relevant gewesen sein. Aber wenn die „Allianz“, wie angenommen, ohnehin fest entschlossen war zu handeln, spielte die Zusage keine Rolle.
NIUS: Das heißt: kein Tatentschluss – keine Straftat?
Prof. Dr. Schwab: Richtig. Wenn sich die Einlassungen der Angeklagten bestätigen, bleibt nach dem Strafgesetzbuch nichts übrig, das man bestrafen könnte. Genau das meine ich mit einem Phantomverbrechen.
Und das gleiche Bild haben wir beim Vorwurf der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen den Bund (§ 83 Abs. 1 StGB): Einen hochverräterischen Angriff sollten die Menschen, die hier angeklagt sind und an das Eingreifen der „Allianz“ geglaubt haben, nach ihrer Vorstellung nicht selbst verüben und deshalb auch nicht selbst vorbereiten. Sie sollten allenfalls Beihilfe zu einem solchen Angriff leisten, und zwar in der Form der psychischen Beihilfe. Jetzt gehen wieder die juristischen Feinheiten los: Man kann strafbare Beihilfe zu einer Straftat leisten, die versucht wird, aber über das Stadium des Versuchs nicht hinauskommt.
Darum geht es hier aber nicht: Die „Allianz“ hat es nie gegeben und hat daher auch nie eine Straftat begangen oder auch nur versucht. Hier geht es darum, dass die Angeklagten, die an die „Allianz“ geglaubt haben, versucht haben – und zwar abermals untauglich – haben, Beihilfe zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen den Bund zu leisten, das es nie gegeben hat und nie in Planung war. Wenn es also noch nicht einmal dazu kommt, dass zu einer fremden Straftat Hilfe geleistet wird, haben wir es mit versuchter Beihilfe zu tun – und diese steht nicht unter Strafe. Auch unter diesem rechtlichen Blickwinkel haben wir es daher mit einem Phantomverbrechen zu tun.
NIUS: Die Anklage behauptet, einige hätten geplant, in den Bundestag einzudringen und einen bewaffneten Anschlag zu verüben. Wie realistisch ist das?
Prof. Dr. Schwab: Ich bin gespannt, wie der Generalbundesanwalt das belegen will. Viele der Angeklagten sind im fortgeschrittenen Alter – teils in der zweiten Lebenshälfte, teils noch weiter. Dass diese Personen den Bundestag stürmen und Abgeordnete oder Minister gefangen nehmen oder gar töten wollten, wirkt wenig glaubhaft. Auch die Anklageschrift bleibt da auffallend vage.
Generalbundesanwalt Jens Rommel, 2024
NIUS: Also mehr eine Idee als ein Plan?
Prof. Dr. Schwab: So scheint es. Man muss sich klarmachen: Wenn – ich spreche jetzt etwas losgelöst vom Fall Prinz Reuß – ein Mensch jenseits der 70 darüber fabuliert, dass es im Staate so nicht weitergehen könne und endlich mal mit dem eisernen Besen gekehrt, gründlich aufgeräumt und knallhart durchgegriffen werden müsse, nimmt man das nicht als Umsturzversuch ernst. Genau so wirkt es hier. Die Vorstellung einer „Allianz“ entstand auch deshalb, weil jene, die an deren Eingreifen glaubten, wussten, dass sie selbst dazu gar nicht in der Lage wären. Erwartbar war also: nichts passiert.
NIUS: Und trotzdem wurde Anklage erhoben?
Prof. Dr. Schwab: Ja. Der Einwand „es wäre sowieso nicht erfolgreich gewesen“ überzeugt Gerichte nicht unbedingt. Im Fall der angeblich geplanten Lauterbach-Entführung – also bei den „Vereinten Patrioten“ – war ebenfalls klar, dass die Pläne nicht realistisch waren. Trotzdem gab es Haftstrafen von bis zu acht Jahren.
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NIUS: Heißt das, dass Aussichtslosigkeit nicht schützt?
Prof. Dr. Schwab: Richtig. Die Gerichte fragen eher: War es ernst gemeint? Manche Beteiligte in Frankfurt haben vielleicht an Unsinn geglaubt – aber das ist nicht strafbar. Zum Glück gibt es bei uns noch keine „Gedankenverbrechen“.
Viele Menschen haben sich in der Corona-Zeit angesichts der einschneidenden Maßnahmen gefragt: „Wer hat diesen Leuten in der Regierung erlaubt, uns das anzutun?“ Dass dann am Stammtisch über Umsturz geredet wird, mag unklug sein – aber es ist keine Straftat. Eine terroristische Vereinigung erfordert konkrete Handlungen, nicht bloße Fantasie.
Weihnachtsmarkt in Köln. Ungeimpfte waren ausgeschlossen.
NIUS: Im Vergleich zum Lauterbach-Fall fällt mir ein Unterschied auf: Dort ging es um eine konkrete Person – Karl Lauterbach. Und theoretisch kann man natürlich auch einzelne Politiker entführen. Das wirkt auf mich greifbarer. Würden Sie sagen, dass der Begriff „Phantomverbrechen“ in diesem Zusammenhang weniger passend ist?
Prof. Dr. Schwab: Ja, das ist tatsächlich der Unterschied. Wenn jemand sagt: „Ich will mich eines ganz bestimmten Politikers bemächtigen“ – also sich gezielt eine reale Person aussucht und überlegt, wie man das konkret in die Tat umsetzen könnte –, dann ist das etwas völlig anderes.
NIUS: Und im aktuellen Fall?
Prof. Dr. Schwab: Da ging es eben nicht um eine solche konkrete Handlung. Stattdessen hatten jene, die an die „Allianz“ glaubten, eine diffuse Vorstellung: Es würden irgendwann ein paar „weiße Ritter“ erscheinen, die das System umkrempeln. Das ist eine völlig andere Qualität – und genau deshalb passt hier der Begriff „Phantomverbrechen“.
NIUS: Auffällig ist ja auch, dass die Angeklagten alle über das Thema Corona zusammengefunden hatten … spielt das eine Rolle?
Prof. Dr. Schwab: Vordergründig hat das Verfahren nichts mit Corona zu tun. Aber auffällig ist, dass in den Ermittlungsakten Begriffe wie „Coronaleugner“ oder „Verschwörungstheoretiker“ immer wieder auftauchen – auch in Protokollen aus Frankfurt. Man hat teilweise den Eindruck, dass sich das System an Kritikern rächen will.
NIUS: Das wäre ein Skandal.
Prof. Dr. Schwab: Wenn das der Hintergrund wäre, dann hätten wir es NICHT mit einer terroristischen Vereinigung zu tun, sondern mit einem politischen Exempel. „Bestrafe einen, erziehe Hunderte“ – das wäre dann die Botschaft. Wer gegen eine Politik opponiert, die unter dem Vorwand des Seuchenschutzes Menschen drangsaliert, müsste damit rechnen, dass der Staat mit aller Härte zurückschlägt.
NIUS: Das heißt, es ginge gar nicht mehr um Recht?
Prof. Dr. Schwab: Wenn sich das bewahrheiten sollte, hätten wir es mit politischen Gefangenen erster Güte zu tun. Und die ganze Anklage wäre nur ein Vorwand. Aber – ich kann nur das bewerten, was aus den Einlassungen der Angeklagten bislang bekannt geworden ist.
NIUS: Vielen Dank für das Gespräch!
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