
Nein, ein Ende der Tollheiten ist offenbar nicht abzusehen. Vor kurzem blockierten sogenannte Aktivisten bei Heidelberg die Einfahrt zu einem Zementwerk von Heidelberg Materials. Eine große technische Einsatzeinheit der Polizei musste mit schwerem Gerät aus Bruchsal anrücken, um die Kleber mit Trennschleifer und Schlagbohrer vom Boden zu entfernen. Dazu musste sogar ein Stück der Straße herausgefräst werden. Die Klimakleber hatten sich mit einem Kleber-Sandgemisch in die Einfahrt zum Zementwerk in Leimen geklebt, das besonders fest am Asphalt haftet. Ein 26-Jähriger musste ins Krankenhaus, der hatte zuvor bereits ein Gebäude von Heidelberg Materials mit Farbe besprüht. Das Unternehmen hat Anzeige erstattet.
Die Zementindustrie sei so zerstörerisch wie kaum eine andere, so die Gruppe mit dem netten Namen „End Cement“. Da sowohl Politik als auch Wirtschaft unzureichend auf die angeblich kritische Lage reagieren würden, habe sich diese Gruppe entschieden, das Werk eigenständig zu blockieren.
Dabei hat sich Heidelberger Zement, so der vormalige traditionsreiche Name des Unternehmens, bereits den grüner klingenden Namen „Heidelberg Materials“ verpasst, in das Logo des Konzerns die Farbe grün aufgenommen und will nun sogenannten CO2-freien Zement anbieten.
Aber all diese Andienerei nutzt nichts, die sogenannten Aktivisten beschimpfen das Unternehmen weiterhin und empfehlen Holz anstelle von Beton als Werkstoff. Leider fehlt den jungen Leuten das notwendige Wissen um das, was sie tun. Sie könnten einmal zu dem Buch von Vaclav Smil greifen mit dem vielsagenden Titel „Wie die Welt wirklich funktioniert“. Der aus Tschechien stammende kanadische Professor für Umweltwissenschaften betreibt Forschung in den Bereichen Energie, Nahrungsmittelproduktion, Geschichte technischer Innovationen und Risikobewertung. Er erinnert daran, auf welchen materiellen Grundlagen unser modernes Leben beruht und beschreibt grundlegende Funktionsweisen der modernen Welt.
Er fragt erstaunt, warum die meisten Angehörigen moderner Gesellschaften so oberflächliche Kenntnis davon haben, wie die Welt wirklich funktioniert. Dabei habe die Menschheit so viel Wissen angehäuft wie noch nie in ihrer Geschichte. Doch haben – so beklagt Smil – immer mehr Menschen kaum noch eine Vorstellung davon, wie die Nahrungsmittel, Rohstoffe und Güter hergestellt werden, auf denen die Gesellschaft materiell beruht. Dies führt zum Beispiel zu Fehleinschätzungen wie etwa der, wir könnten unsere Zivilisation in kurzer Zeit von fossilen Brennstoffen auf sogenannte erneuerbare Energien umstellen.
Nicht Smartphones, Apps oder der Datenaustausch im Internet seien das Rückgrat unserer Zivilisation, sondern physisch greifbare Materialien. Smil bezeichnet Zement, Stahl, Ammoniak und Kunststoffe als die vier tragenden Säulen der modernen Welt. Sie sind allgegenwärtig, aber unsichtbar geworden. Dabei zeigt der Blick in die Zahlen: Allein im Jahr 2019 wurden weltweit 4,5 Milliarden Tonnen Zement, 1,8 Milliarden Tonnen Stahl, 370 Millionen Tonnen Kunststoffe und 150 Millionen Tonnen Ammoniak produziert.
Diese Stoffe sind nicht einfach ersetzbar – schon gar nicht kurzfristig. Sie entstehen durch komplexe industrielle Prozesse, die auf fossilen Energieträgern beruhen. Und sie sind die Voraussetzung für all das, was wir für selbstverständlich halten: Häuser, Transport, Nahrung, Medikamente, Stromversorgung, Kommunikation.
Zement ist untrennbar mit Beton verbunden – dem meistverwendeten Baustoff der Welt. Städte, Brücken, Windkraftanlagen: Ohne Zement gäbe es sie nicht. Auch nicht das Krankenhaus oder die Schule, die Aktivisten verteidigen wollen. China hat in nur zwei Jahren mehr Zement verbraucht als die USA im gesamten 20. Jahrhundert – ein Maßstab für die Realität globaler Infrastruktur. Kein Wunder: Beton ist robust, vielseitig und kostengünstig – und lässt sich gut recyceln.
Selbst die Römer bauten mit Beton: Das Pantheon in Rom trotzt seit 2.000 Jahren Wind und Wetter – ein frühes Beispiel für die Dauerhaftigkeit des Materials. Moderne Betonbauten sind zwar weniger langlebig, aber immer noch essenziell.
Stahl wiederum, eine weitere Säule der Zivilisation, findet sich in Autos, Maschinen, Schiffen, Waffen, Windrädern. Seine Produktion ist energieintensiv, beruht bislang überwiegend auf Koks und verursacht rund sieben bis neun Prozent der globalen CO₂-Emissionen. „Grüner Stahl“ auf Wasserstoffbasis ist bisher nicht massentauglich; die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen.
Jeder Mensch nutzt jährlich durchschnittlich über 250 Kilogramm Stahl – in Autos, Geräten, Maschinen. Die klassische Stahlproduktion im Hochofen ist energieintensiv und kohlenstoffbasiert. Alternativen wie die Wasserstoffroute sind technisch noch nicht ausgereift und wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig. Auch hier gilt: ohne Stahl kein Fortschritt.
Ammoniak, die vielleicht unscheinbarste Säule, ist in Wahrheit der Dünger, der die Welt ernährt. Ohne synthetischen Stickstoffdünger könnten laut Smil kaum vier Milliarden Menschen überleben. Eine Rückkehr zur „biologischen“ Landwirtschaft sei eine Illusion. Doch auch Ammoniak basiert auf Erdgas – als Energiequelle und Rohstofflieferant.
Kunststoffe schließlich sind allgegenwärtig. Von Medizin bis Logistik, von Elektronik bis Kleidung – überall stecken Kunststoffe drin. Alternativen wie Papier oder Glas schneiden ökologisch nicht unbedingt besser ab – etwa durch höheren Energieverbrauch bei Herstellung und Transport.
Alle vier Materialien eint eines: Ihre Herstellung ist eng mit fossilen Energieträgern verbunden – und verursacht zusammen rund ein Viertel der globalen Emissionen aus fossilen Quellen. Dennoch sind sie auf absehbare Zeit nicht ersetzbar. „Die moderne Welt funktioniert nicht ohne sie“, so Smil. Er kritisiert politische Zielsetzungen wie „Klimaneutralität bis 2030“ als technikferne Illusionen. Der Glaube, jahrhundertealte Infrastrukturen binnen weniger Jahrzehnte durch „grüne“ Alternativen ersetzen zu können, sei realitätsfern. Besonders Länder wie China oder Indien, deren Energiebedarf weiter wächst, könnten sich einen sofortigen Abschied von Kohle nicht leisten.
Smil warnt vor einem weit verbreiteten Denkfehler: Der technische Fortschritt bei Mobiltelefonen oder Computern lasse sich nicht auf Sektoren wie Energie, Bau oder Chemie übertragen. Es handelt sich um einen Kategorienfehler ersten Ranges, so Smil. Klar geht der Informationsfluss wesentlich schneller, neue Mobiltelefone werden im Jahrestakt auf den Markt geworfen – doch es ist ein erheblicher Unterschied, beispielsweise große Kraftwerke mit Dampf oder Gasturbinen und eine gigantische Energieversorgungsinfrastruktur schnell zu ersetzen, etwa durch Windräder oder PV-Anlagen. Die Dimensionen sind einfach zu gewaltig. Die Trägheit großer materieller Systeme lasse sich nicht digital „wegprogrammieren“.
Das Verdienst Smils liegt in der detaillierten Beschreibung der technischen Grundlagen unseres Alltags und ihrer physikalischen Grenzen. Die Energieeinsparpotenziale bei Stahl oder Ammoniak sind durch Naturgesetze begrenzt. Auch Effizienzsteigerungen und Verhaltensänderungen stoßen an diese Grenzen.
Sein Rat: Abstand nehmen von numerischen Prophezeiungen, die komplexe Zukunftsszenarien in einfache Ziele wie „Net Zero bis 2050“ pressen. Geschichte verläuft nicht linear, sondern in Brüchen, Umwegen und Rückschlägen. Die Welt, so Smil, folgt nicht den Regeln eines Rechenmodells, sondern den Gesetzen der Physik, Chemie und Thermodynamik.
Die bestehende Abhängigkeit in Energiefragen kann nicht kurzfristig beendet werden. Es kann keine Energieinfrastruktur in ein paar Jahrzehnten ersetzt werden, die in 150 Jahren gewachsen ist. Die Trägheit großer komplexer Systeme hat ihren Grund in ihrem fundamentalen Energie- und Materialbedarf. Bei der Stahlerzeugung liegt das theoretische Minimum des Energiebedarfes bei rund 18 GJ/Tonne des glutflüssigen Metalls. Ammoniak lässt sich aus seinen Elementen nicht mit einem Energieeinsatz von weniger als 21 GJ/Tonne synthetisieren.
Die Energiemenge, die benötigt wird, um Stahl zu erzeugen, steht also fest. Sie kann auch nicht mit Tricks angeblich auf Wasserstoffbasis umgangen werden. Dieser Zwischenschritt erhöht nur die Gesamtenergiekosten.
Diese Realitäten sollten verstehen helfen, weshalb die fundamentalen Elemente unseres Lebens sich in den kommenden 20 bis 30 Jahren nicht drastisch verändern werden. Stahl, Zement, Stickstoff und Kunststoffe werden als die vier stofflichen Säulen der Zivilisation fortbestehen. Ein großer Teil der weltweiten Transportleistungen wird weiterhin von Verbrennungsmotoren erbracht werden, die Benzin, Diesel oder Kerosin nutzen.
Ohne Zement wäre nicht nur das Zementwerk bei Heidelberg, sondern auch das Krankenhaus um die Ecke, die Schule im Nachbarort und die Windkraftanlage auf dem Feld nie gebaut worden. Die Klimakleber protestieren gegen einen Stoff, der paradoxerweise auch das Fundament jener Transformation ist, die sie fordern. Übrigens: Beton benötigt CO2 aus der Luft, damit er hart werden kann.
Vaclav Smil würde den Klimaklebern vor dem Zementwerk sagen: „Bevor man gegen Zement protestiert, sollte man verstehen, warum es ihn überhaupt gibt.“