
Vor der Bundestagswahl hatte Jens Spahn auf eine klare Abgrenzung von der AfD gesetzt. Zwar taten das auch andere Politiker der Union, Spahn fand dafür zum Teil aber die schärfsten Worte. „Das einzige Bollwerk gegen die AfD in Deutschland ist die CDU“, sagte er beispielsweise noch im Januar in der ZDF-Sendung Maybrit Illner. Nach den erfolgreichen Koalitionsverhandlungen ist Spahn von dieser Rhetorik plötzlich abgerückt und gibt sich diplomatischer.
Im Gespräch mit der Bild forderte der CDU-Politiker jetzt sogar einen anderen Umgang mit der AfD – allerdings um Wählerstimmen zurückzugewinnen. Dennoch: Man müsse „auch einfach anerkennen“, erklärt Spahn „wie viele Millionen Deutsche die AfD gewählt haben“ – denn „deswegen sitzt sie da so stark“ und „wir sollten sie schon ernst nehmen, diese Wählerinnen und Wähler.“
Dass die Partei keinen Bundestagsvizepräsidenten erhalten hat, wollte Spahn mit Verweis auf die anonyme Wahl der einzelnen Abgeordneten zwar nicht kritisieren, dafür forderte er einen normalen Umgang mit der AfD in durch die Geschäftsordnung geregelten Abläufen sowie in den Ausschüssen. „Da würde ich uns einfach empfehlen, mit der AfD als Oppositionspartei so umzugehen in den Verfahren und Abläufen wie mit jeder anderen Oppositionspartei auch.“
Spahn zeigte sich in dem Gespräch als Vertreter der Mitte und wollte es sich deshalb offenbar nicht nehmen lassen, dennoch nach links und rechts auszuteilen. Würde man sich im Bundestag anschauen, wie viele Sitze „jetzt da die extreme Rechte einnimmt, und übrigens auf der anderen Seite die populistische extreme Linke einnimmt, und wie klein in Relation der Mittelteil geworden ist“, so Spahn, „dann glaube ich, hat man die richtige Richtschnur, was die Aufgabe ist.“
Und diese Aufgabe besteht laut Spahn darin, „Vertrauen zurückzugewinnen“ oder mit anderen Worten: Die AfD und die Linke wieder kleiner zu machen. „Ich kann jedem empfehlen, der jetzt in Verantwortung kommt in dieser Regierung und in der Fraktion im Bundestag, sich an die Bürowand – im Zweifel an der Tür, wo man oft vorbeimuss, einfach das Wahlergebnis vom 23. Februar hinzuhängen, als ständige Mahnung, was unser Auftrag ist“, erklärte der CDU-Politiker.
Das noch im Januar beschworene „Bollwerk“ bleibt also weiter bestehen – aber Spahn hat das Wählervotum offenbar akzeptiert. Dass er allerdings jetzt „Vertrauen zurückzugewinnen“ möchte, erscheint grotesk. Denn die Gründe für die sinkende Wählerzustimmung für die Union haben sich in den vergangenen Wochen gezeigt.
Zunächst wurde mit dem alten Bundestag eine Grundgesetzänderung verabschiedet – nachdem Friedrich Merz den Grünen für deren Zustimmung wiederum Zugeständnisse machen musste –, mit der ein schuldenfinanziertes Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro ermöglicht werden soll. Im Wahlkampf hatte sich Merz hingegen noch für das Festhalten an der Schuldenbremse ausgesprochen.
In den Sondierungsverhandlungen mit der SPD hatte die Union dann die von Merz im Januar angekündigte migrationspolitische Härte vollständig fallen gelassen. Zwar konnten in der Chefrunde letztlich doch einige Vorhaben in den Koalitionsvertrag übernommen werden, das große Versprechen, bei diesem Thema keine Kompromisse machen zu wollen, verpasste Merz aber.
Auch Spahn hatte das europäische Asylsystem in ebenjener Illner-Sendung für „dysfunktional“ erklärt. „Und wenn das EU-Recht nicht funktioniert, müssen wir an unseren Grenzen einen Unterschied machen“, erklärte der CDU-Politiker damals. Alle Migranten ohne gültige Ausweisdokumente oder Einreisepapiere müssten abgewiesen und in Drittstaaten untergebracht werden, so das Argument.
Im Koalitionsvertrag findet sich das nur in abgeschwächter Form wieder: Union und SPD bekennen sich zu Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien und auch zu Zurückweisungen – Asylverfahren in Drittstaaten sind aber kein vorgegebenes Ziel mehr. Überdies ist nach wie vor nicht klar, in welchem Umfang die Zurückweisungen an den Landesgrenzen vonstattengehen. Bislang sollen sie „in Abstimmung“ mit den Nachbarländern durchgeführt werden – was das bedeutet, hat Merz bis heute nicht erklärt.
Dennoch betonte Spahn gegenüber Bild noch einmal, „der neue Innenminister, da bin ich sehr sicher, wird sehr schnell loslegen und einen Unterschied machen, vor der Sommerpause dieses Jahres“. Der Zusatz „an unseren Grenzen“, wie Spahn es in diesem Kontext noch bei Illner gesagt hatte, fehlte hier.