Polen: Wie die linke Regierung die Präsidentschaftswahl rückgängig machen will

vor etwa 6 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

Für deutsche Leser müssen die folgenden Zeilen wie ein Déjà-vu-Erlebnis wirken: Vor fünf Jahren forderte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die mit den Stimmen der AfD erreichte Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen „rückgängig“ gemacht werden müsse. Zwei Jahre später entschied das Bundesverfassungsgericht: Dieses Vorgehen war unrechtmäßig. An einer wirklichen Aufarbeitung dieser undemokratischen Intervention besteht in der Bundesrepublik Deutschland bis heute kein Interesse. In Polen dürfen wir uns seit Wochen ein ähnliches Spektakel anschauen, jedoch hoffentlich mit einem glücklicheren Ende als in Erfurt.

Nach dem Sieg des von der konservativen Opposition unterstützten Karol Nawrocki gingen beim Obersten Gericht (SN) zahlreiche Wahleinsprüche ein. Derweil sollen es mehr als 50.000 sein, so die Vorsitzende des Gerichts Małgorzata Manowska. Die mit der Bürgerplattform des Regierungschefs Donald Tusk sympathisierenden Protestierenden meinen, bei der Auszählung der Stimmen in den Wahlkommissionen sei es zu „Unregelmäßigkeiten“ gekommen. Den Protesten folgte im konservativen Lager eine Welle der Empörung. Jarosław Kaczyński bezeichnete Tusk und dessen Vize Trzaskowski als „schlechte Verlierer“. „Wir werden nicht zulassen, dass man uns den Wahlsieg stiehlt“, sagte der PiS-Vorsitzende.

Nawrocki hatte die Wahl im zweiten Wahlgang mit einem Vorsprung von beinahe 400.000 Stimmen gewonnen. Es war der zweithöchste Sieg bei Präsidentschaftswahlen in Polen nach 1989. „Wer an solch gigantische Unregelmäßigkeiten glaubt, dem ist nicht mehr zu helfen“, versichert der Sejm-Abgeordnete Marek Jakubiak. Und was sagt der designierte Staatspräsident? „Ich werde nicht zulassen, dass Polen seiner Demokratie beraubt wird. Diese absurden und hysterischen Reaktionen tun ihr allerdings nicht gut“, sagte Karol Nawrocki. Ähnlicher Meinung ist der scheidende Präsident Andrzej Duda.

Inzwischen raten sogar Mitglieder der linken Regierung von einer Neuauszählung der Stimmen ab. Die stellvertretende Erziehungsministerin Joanna Mucha, einstmals eine einflussreiche Vertraute Tusks, hat bereits verlauten lassen, dass sie das Kabinett verlasse. Sie verwies auf „wiederholte Fehler“, die der PO-Chef nach jeder Niederlage beginge, sowie das Fehlen einer „strategischen Analyse“. Dieselbe Meinung vertritt der Sejm-Marschall und zweite Mann im Staat Szymon Hołownia. Donald Tusk selbst spricht zwar nicht von einer „Wahlfälschung“, widerspricht jedoch auch nicht seinen energiegeladenen „Schoßhunden“ wie Sławomir Nitras oder Roman Giertych, die seit Wochen die PiS laut anbellen und der Begehung von „Unregelmäßigkeiten“ bei der Präsidentschaftswahl bezichtigen.

Vor allem Giertych ist ein eigenartiges Phänomen: Einst von den Linken als „Antisemit“ und „Rechtsradikaler“ verschrien, spielt er heute freiwillig in ihrem Orchester. Weil Tusk und andere führende Politiker der Bürgerplattform zu den erdachten Vorwürfen der „Wahlfälschung“ schwiegen, ergriff der ehemalige LPR-Vorsitzende und Chef der Allpolnischen Jugend die Initiative. Giertych, der den Ministerpräsidenten mittlerweile liebevoll mit „Donaldzie“ anspricht, stellte ein Formular ins Netz, das jene Bürger, die Einspruch einlegen wollten, lediglich auszufüllen brauchten. „Der Sieg Nawrockis beruht auf einem Wahlbetrug“, wiederholt der Jurist, trotz aller Rückzugsaufforderungen aus den eigenen Reihen.

Zudem wurde Giertych zuletzt zum Hauptdarsteller eines erneuten Abhörskandals. Er soll vor den Parlamentswahlen 2019 unter seinem eigenen Namen Unterschriften gesammelt haben, die eigentlich für den Wahlkampf eines anderen Spitzenkandidaten, Stanisław Gawkowski, bestimmt waren, was eindeutig als illegal einzustufen wäre. „Roman Giertych ist wirklich der letzte, der anderen Politikern Fälschungen vorwerfen sollte“, meint der PiS-Abgeordnete Dariusz Matecki.

Übrigens ist Tusk dieweil weniger zurückhaltend als vor zwei Wochen. Zu einem „lauten Disput“ sei es in der vergangenen Woche zwischen ihm und dem amtierenden Staatspräsidenten Andrzej Duda bei der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats gekommen. „Herr Tusk und seine Kollegen können sich mit der Niederlage nicht abfinden. Ich kenne das Wahlergebnis, die staatliche Wahlkommission hat es längst veröffentlicht“, schrieb Duda in den sozialen Medien.

Wie dem auch sei: Das Oberste Gericht hat bis zum 2. Juli Zeit, um die Wahleinsprüche zu prüfen. Dreißig Tage nach der Präsidentschaftswahl müssen die Richter ihr Urteil über die Gültigkeit des Urnengangs verkünden. Doch selbst Szymon Hołownia glaubt, dass er am 6. August die Nationalversammlung einberufen wird, damit Karol Nawrocki den Eid ablegen könne.

Bis dahin werden Tusk und Trzaskowski tolerieren, was Giertych in die Welt setzte: Eine absurde Verschwörungstheorie über eine „Armee“ versteckter PiS-Mitglieder, die sich als Vertreter von Wahlkomitees ausgaben, heimlich geschult und von der Parteizentrale in der Nowogrodzka-Strasse aus geleitet. Eine Horde „verdeckter Agenten“ also, die ihren „normalen“ Kollegen in den Wahllokalen Abführmittel in den Kaffee mischten, um in deren Abwesenheit gemäß detaillierter „Geheimanweisungen“ die Protokolle zum Nachteil von Rafał Trzaskowski zu fälschen. Diese Version des Wahlverlaufs wird selbstredend von jenen Wählern, die nach etwas Erleichterung von ihrer Frustration lechzen, begierig aufgegriffen. In ähnlicher Weise etwa, wie die kurz vor der Stichwahl willkürlich in die Medien eingestreuten Epitheta „Bandit“ und „Zuhälter“, mit denen Karol Nawrocki bedacht wurde.

Eines steht jedenfalls fest: Roman Giertychs Wandel vom „Rechtsextremen“ zum von Warschauer Eliten hofierten „Linksliberalen“, sowie dessen rasanter Aufstieg innerhalb der Bürgerplattform ist zugleich ein Beweis für deren Niedergang. Die 2014 eher ironisch als prophetisch gemeinte Aussage einer Journalistin, die PO könne auch nach Donald Tusks Rückkehr von Brüssel nach Warschau nichts Positives mehr bewirken, ereignet sich nun vor unseren Augen.

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