Das Betätigungsverbot für Marine Le Pen gleicht einem politischen Todesurteil für die französische Republik

vor 27 Tagen

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In Frankreich ist die Todesstrafe seit 1981 verboten – aber nur im Strafrecht. In der Politik nicht. Da gibt es die „Todesstrafe“ bis heute. Da übt eine politische Justiz Rache an Volksvertretern, die ihr ideologisch nicht passen, um sie mit allen Mitteln aus dem Verkehr zu ziehen. Man könnte auch sagen: um sie mit allen Mitteln politisch zu ermorden.

Eine Illustration des Romans „Der letzte Tag eines Verurteilten“ von Victor Hugo. Die Todesstrafe ist längst abgeschafft im französischen Strafrecht. Aber nicht in der Politik.

Denn das Urteil, welches das Tribunal correctionnel de Paris (im Endeffekt das Pariser Landgericht) am Montag dieser Woche gegen Marine Le Pen gesprochen hat, kommt einem Politmord gleich. Fünf Jahre lang ist sie ab sofort vom Tragen politischer Ämter ausgeschlossen, weshalb sie an der Präsidentschaftswahl 2027 nicht teilnehmen kann. Außerdem befanden die Richter Madame Le Pen sowie acht weitere derzeitige oder ehemalige Mitglieder des Europäischen Parlaments und zwölf ehemalige Assistenten der missbräuchlichen Verwendung öffentlicher Mittel in Höhe von 2,9 Millionen Euro für schuldig. Le Pen wurde zudem zur Zahlung einer Geldstrafe von 100.000 Euro verurteilt sowie zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe, von der zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die verbleibenden zwei Jahre soll sie unter Hausarrest mit elektronischer Fußfessel verbüßen.

Drei Dinge an diesen Vorwürfen und der Verurteilung dafür sind sehr erstaunlich: Erstens hat die angebliche Zweckentfremdung dieser EU-Gelder durch den Front National (der Vorgängerpartei von Le Pens heutigem Rassemblement National) in den Jahren 2004 bis 2016 stattgefunden – ist also lange her und eventuell gar nicht mehr justiziabel. Trotzdem hat das Pariser Landgericht tausende Akten und noch mehr Zahlungen ausgewertet und ist bis ins Jahr 2002 zurückgegangen, um auf jeden Fall etwas zu finden. Zweitens hat Madame Le Pen bereits 2023, ohne Schuldanerkenntnis, 330.000 Euro an die EU-Kasse zurückbezahlt und alle auf sie entfallenden Teile der unterstellten Zweckentfremdung bereits gesühnt. Und drittens – und das ist der wichtigste Punkt – gibt es bei allen Assistenten der EU-Abgeordneten eine Schnittmenge zwischen ihren rein parlamentarischen Aufgaben und ihrer Tätigkeit für die Partei. Oft lässt sich gar nicht trennen, welcher Assistent wann wofür gearbeitet hat.

Marine Le Pen am Montag nach ihrer Verurteilung im französischen Sender TF1.

Viel gravierender noch ist die von der dänischen Investigativ-Plattform Follow The Money in Zusammenarbeit mit der Welt eruierte Tatsache, dass zwischen 2019 und 2022 insgesamt 140 EU-Abgeordnete EU-Gelder zweckentfremdet haben. 108 von ihnen mussten mehr als zwei Millionen Euro zurückzahlen, während 31 noch ausstehende Rückzahlungen in Höhe von 1,44 Millionen Euro schulden. Hinzu kommen über 3,5 Millionen Euro an sogenannten technischen Korrekturen und freiwilligen Rückzahlungen durch Abgeordnete im selben Zeitraum. Alle diese Abgeordneten wurden wohl von OLAF (Office européen de lutte antifraude, auf Deutsch: Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung) untersucht, aber in ihren Heimatländern nie angeklagt, verloren weder ihr politisches Mandat noch ihr passives Wahlrecht. Das ist allein bei Marine Le Pen geschehen.

Ein Blick in den Sitzungssaal der Europaparlaments.

Dies alles lässt nur einen Schluss zu: Marine Le Pens „Verbrechen“ ist nicht die Zweckentfremdung von EU-Geldern, sondern ihr Wahlerfolg – und die daraus hervorgehende Bedrohung für die etablierten französischen Parteien. Der Rassemblement National (RN) hat bei den vergangenen Parlamentswahlen im Juni und Juli 2024 29 Prozent der Stimmen im 1. Wahlgang und 32 Prozent im 2. Wahlgang erhalten. Er wurde mit 125 Sitzen damit zur stärksten einzelnen politischen Kraft in der Nationalversammlung – in einem politisch tief gespaltenen Land, in dem weder Sozialisten noch Konservative verlässliche Mehrheiten finden. Der RN ist also eine ernsthafte Gefahr für das politische Establishment.

Und da dieses politische Establishment – selbst ideen- und erfolglos, an Verbesserungen für Bürger und Land desinteressiert und von vielen Wählern gehasst – jetzt ernsthaft um seine Zukunft fürchten muss, weiß es sich einer Politikerin wie Marine Le Pen nur mit dem zu erwehren, was die Amerikaner „Lawfare“ nennen. Das ist ein Kunstwort, das die Verbindung von warfare (Kriegsführung) und law (Recht) signalisiert und benennen soll, wenn Recht und Rechtsprechung dazu genutzt werden, politische Gegner auszuschalten.

Marine Le Pens „Verbrechen“ ist nicht die Zweckentfremdung von EU-Geldern, sondern ihr Wahlerfolg.

Die drakonische Strenge des Urteils gegen Le Pen und seine verheerende Wirkung auf die Öffentlichkeit sind selbst Le Pens politischen Gegnern nicht entgangen. So äußerte sich der Les-Républicains-Politiker Laurent Wauquiez auf Twitter:„Die Entscheidung, Marine Le Pen zu verurteilen, ist schwerwiegend und außergewöhnlich. In einer Demokratie ist es nicht gesund, wenn eine gewählte Politikerin daran gehindert wird, sich zur Wahl zu stellen. Politische Debatten müssen in der Wahlurne entschieden werden – vom französischen Volk.“

Selbst Le Pens politische Gegner wie der Les-Républicains-Politiker Laurent Wauquiez, äußerten sich kritisch zu dem drakonischen Urteil.

Selbst Jean-Luc Mélenchon, Le Pens schärfster politischer Gegner auf der äußersten Linken, warnte: „In einem Rechtsstaat muss jeder das Recht haben, Berufung einzulegen. Wenn man dieses Recht Marine Le Pen verweigert, wird es am Ende allen verweigert – und das wäre ein Fehler.“

Marine Le Pen widerfährt nun das, was vor ihr bereits in Italien Silvio Berlusconi, in Brasilien Jair Bolsonaro und natürlich Donald Trump in den USA widerfahren ist: eine parteiische Justiz außer Rand und Band, die sich zur Erfüllungsgehilfin der etablierten Parteien macht, rüstet massiv auf, um mit großzügigster Auslegung mitunter exotischer und entlegener Rechtsparagrafen das zu leisten, was Wahlen nicht vermögen: die Ausschaltung des politischen Gegners.

Marine Le Pen widerfährt nun das, was vor ihr bereits anderen unliebsamen Politikern wie Donald Trump widerfahren ist.

Ein solches Vorgehen, das jedes Mal zu hämischem Jubel bei vielen linksliberalen Medien führt, hat jedoch mehrere Nachteile, die nicht allen bewusst sind: Bürger und Wähler verlieren nach und nach das Vertrauen in die Justiz und damit in einen der wesentlichen Teile der staatlichen Exekutive. Staaten, deren Justiz politische Gefälligkeitsurteile spricht, delegitimieren sich gegenüber dem Bürger, der den Rechtsstaat will. Es ist die alte Geschichte: Warum soll ich mich an Geschwindigkeitsbegrenzungen, Parkverbote oder Steuergesetze halten, wenn ich weiß, dass „die da oben“ mit ihren Gerichten – und damit dem Gesetz – machen, was sie wollen?

Das zweite Problem ist, dass solche Urteile den politischen Diskurs verschärfen und auch anständige und gutwillige Politiker (die es immer noch gibt) zu Hauen und Stechen zwingen. Ganz nach dem Motto: Sind Recht und Gesetz erst ruiniert, kämpft es sich völlig ungeniert. Dies hat sich in den USA besonders deutlich gezeigt, als Trump – von Amtsenthebungsverfahren und andauernden Attacken durch Staatsanwälte und Gerichte entnervt und gezeichnet – einen harten, hämischen Diskurs eingeführt hat, von dem er nun nicht mehr lassen kann.

Aber das Beispiel Trumps zeigt noch etwas anderes: Die Wähler haben die andauernden Attacken politisierter Staatsanwälte und Richter längst satt und glauben all den Horrorgeschichten, die insbesondere konservativen Politikern vorgeworfen werden, schon lange nicht mehr. Trump hat die letzte Präsidentschaftswahl nicht trotz der vielen Verfahren gegen ihn gewonnen – sondern auch wegen dieser.

Marine Le Pen verließ am Montag sichtbar aufgebracht den Gerichtssaal – sagte danach aber nur ein einziges Wort: incroyable (unglaublich). Später meldete sie sich auf X (vormals Twitter) und griff das Urteil scharf an. Sie sprach von einem Angriff auf ihre Person durch ein „System“, das „die Atombombe gezündet“ habe – und erklärte den Franzosen zugleich: „Dreißig Jahre kämpfe ich schon für euch. Dreißig Jahre kämpfe ich gegen die Ungerechtigkeit. Ich werde das weiter tun – und ich werde es bis zum Ende tun.“

Nach dem Urteil äußerte sich Marine Le Pen wie folgt: „Dreißig Jahre kämpfe ich schon für euch. Dreißig Jahre kämpfe ich gegen die Ungerechtigkeit. Ich werde das weiter tun – und ich werde es bis zum Ende tun.“

Die Richter des Pariser Strafgerichts haben ihrem Land, seiner Justiz und seinen Bürgern einen Bärendienst erwiesen. Ihr Urteil wird den Rassemblement National nicht schwächen, sondern im Gegenteil stärken. Die Gräben in der französischen Innenpolitik – seit jeher breit und tief – sind noch weiter geworden.

Und Marine Le Pen? Die ist noch lange nicht am Ende.

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