Das psychotherapeutische System steht vor einem Kollaps – die Regierung sieht zu

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Bildquelle: Tichys Einblick

Nach der Corona-Pandemie haben Psychotherapeuten und Psychologen für Kinder und Jugendliche alle Hände voll zu tun: Die Zahlen von Kindern und Jugendlichen, die wegen Depressionen oder Essstörungen in einer psychiatrischen Einrichtung behandelt werden müssen, bleiben hoch. Im Jahr 2023 wurden mehr als 30.000 Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 18 Jahren wegen depressiver Symptome oder Essstörungen vollstationär behandelt. Das sind zwar etwas weniger als im Vorjahr. Aber knapp 34 Prozent mehr als im Jahr 2018 – also ein deutliches Plus. Das zeigt eine Statistik, die die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage von Abgeordneten der AfD-Fraktion veröffentlicht hat. Die Zahlen aus dem letzten Jahr liegen demnach noch nicht vor.

Diese Zahlen zeigen, dass nach der Corona-Pandemie viele Kinder und Jugendliche eine Psychotherapie benötigen. Auch die steigenden Kriminalitätsraten unter Heranwachsenden zeigen, wie wichtig es ist, dass sie auf die Hilfe von Psychotherapeuten und Psychologen zählen können, wie TE berichtete.

Aber diese Hilfe kann kaum noch gewährleistet werden: Es gibt zu wenige Therapieplätze, vor allem für Kinder und Jugendliche. Die Wartezeiten für Therapieplätze betragen oft fünf Monate oder noch länger, wie das Deutsche Ärzteblatt berichtet. Und dieser Engpass könnte sich in den kommenden Jahren noch verschlimmern. Denn das Psychotherapeutensystem steht vor einem Kollaps, wenn die Regierung nicht bald etwas tut:

Im Jahr 2019 hat die Bundesregierung das „Psychotherapeutengesetz“ reformiert, um den Ausbildungsweg zum Psychotherapeuten zu erleichtern. Im alten System mussten herangehende Psychotherapeuten nach einem fünfjährigen Studium ihre mehrjährige und zeitintensive Ausbildung selbst finanzieren, und machten oft erhebliche Schulden. Denn anders als bei Medizinern in ihrer Facharztweiterbildung bekamen viele Psychotherapeuten in ihrer Ausbildung kein Gehalt und hatten somit kein Einkommen.

Das wollte die Regierung offenbar ändern und regelte in dem neuen Psychotherapeutengesetz, dass Studenten der „Klinischen Psychologie und Psychotherapie“ zusammen mit ihrem Master-Abschluss eine „Teilapprobation“ erhalten. Diese dient dazu, eine Grundlage zu schaffen, dass die angehenden Psychotherapeuten in ihrer „Weiterbildung zum Erwerb der Fachkunde“ ein „angemessenes“ Gehalt bekommen. Schöne Idee. Aber an der Umsetzung hapert’s:

Die Reform ist im Jahr 2020 in Kraft getreten, als die ersten Psychologieinteressierten ihr Studium nach diesem neuen System gestartet haben. Aber innerhalb der letzten fünf Jahre hat es die Regierung nicht geschafft, die Reform in die Realität umzusetzen: Noch immer ist nicht geklärt, wer die Weiterbildung und einige Lehrinhalte finanziert. Die Krankenkassen? Die psychiatrischen Krankenhäuser und Einrichtungen, in denen die Weiterbildung stattfindet? Der Staat? Diese Frage muss dringend geklärt werden. Denn in diesem Jahr schließen die ersten Studenten des neuen Systems ihren Master ab und erhalten ihre Teilapprobation. Solange nicht geklärt ist, wer die Weiterbildung finanziert, stehen sie allerdings in einer beruflichen Sackgasse: Sie können ihre Weiterbildung nicht antreten, weil die Regierung die Plätze dafür noch nicht geschaffen hat.

Die Folge wäre ein Mangel an Psychotherapeuten in den ambulanten und stationären Einrichtungen, vor allem für gesetzlich versicherte Kinder und Jugendliche: Dabei sind genau diese Fachkräfte entscheidend, um Kinder und Jugendliche mit psychischen Belastungen frühzeitig zu unterstützen.

Und zwar dringend: Nicht nur die Raten an Kindern und Jugendlichen mit Depressionen und Essstörungen sind hoch. Die Zahlen der Bundesregierung zeigen ebenfalls, dass 2023 mehr Kinder und Jugendliche eine „Entwicklungsstörung“ aufwiesen als in den Jahren zuvor: Eine solche Diagnose bedeutet, dass ein Kind Probleme damit hat, alterstypische Fähigkeiten wie Sprache, Bewegung, Intelligenz, soziale Interaktion und schulische Kompetenz zu entwickeln. Im Jahr 2023 wurden fast 4.750 Kinder und Jugendliche wegen einer „Entwicklungsstörung“ vollstationär behandelt – ein Zuwachs um rund 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Kein Wunder: Während der Corona-Pandemie blieben Heranwachsende oftmals zu Hause, haben nur wenige Menschen zu Gesicht bekommen und durften – je nach Bundesland – zeitweise nicht einmal das Haus verlassen, es sei denn, sie begleiteten ihre Eltern zum Einkaufen. In den Supermärkten mussten die Kunden dann ihren Mund und ihre Nase bedecken und somit wurde es den Kindern auch dort erschwert zu lernen, sozial zu interagieren und nonverbal zu kommunizieren. Dies sind genau jene Fähigkeiten, die bei Kindern mit einer „Autismus-Spektrum-Störung“ – eine tiefgreifende Form der Entwicklungsstörungen – meist eingeschränkt sind.

Bei Entwicklungsstörungen ist eine vollstationäre Therapie eigentlich nicht nötig. In den „Leitlinien“ für Entwicklungsstörungen empfehlen die Expertengremien eine vollstationäre Therapie nur dann, wenn die ambulanten und teilstationären Angebote ausgeschöpft sind, aber die Betroffenen weiterhin erheblich durch die Symptomatik beeinträchtigt werden. Dann sei eine intensive Förderung der Minderjährigen im Rahmen einer stationären Therapie nötig, damit die Kinder soziale, schulische und adaptive Kompetenzen aufbauen.

Für solche Kinder braucht Deutschland mehr Psychotherapeuten. Derzeit gibt es zu wenige. Aber dieser Mangel liegt nicht am fehlenden Nachwuchs: Die Zahl der Psychologie-Studenten insgesamt ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen, während die Studierendenzahl fächerübergreifend rückläufig war, wie eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt. Im Wintersemester 2023/24 waren rund 113.000 für ein Studium der Psychologie eingeschrieben. Das waren drei Prozent mehr als im Vorjahr und fast doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.

Die Verantwortung liegt bei der Bundesregierung – sie hat die Reform zwar beschlossen, aber ihre Umsetzung jahrelang verschleppt. Bleibt das so, droht dem System ein struktureller Kollaps – auf Kosten der Kinder und Jugendlichen, die dringend Hilfe brauchen.

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