Oberst Ralph Thiele über Eskalation, Ratlosigkeit und Risiken

vor 3 Tagen

Blog Image
Bildquelle: Tichys Einblick

Oberst Ralph Thiele war früher im Stab des NATO-Oberbefehlshabers und ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin, Präsident von EuroDefense (Deutschland) und Geschäftsführer von StratByrd Consulting.

Der jüngste ukrainische Schlag gegen russische Militärflugplätze wird von vielen Medien als spektakulär gefeiert. Für Thiele ist er zwar technisch bemerkenswert, militärisch jedoch kein Wendepunkt – vielmehr ein gefährlicher Symbolangriff, da sogar Trägersysteme für Nuklearwaffen getroffen wurden. Das sei brandgefährlich, denn Putins neue Nukleardoktrin sieht bereits Angriffe auf Trägersysteme als möglichen Auslöser für einen Atomwaffeneinsatz.

Der Westen, so Thiele, spiele mit dem Feuer, ohne Plan für Deeskalation oder Exit. Die politische und mediale Freude über ukrainische „Erfolge“ verkenne die strategische Realität: Russland bleibe militärisch stark, werde durch derartige Nadelstiche eher provoziert als geschwächt. Präsident Selenskyj inszeniere große Erfolge vor allem, um innenpolitisch zu punkten und außenpolitisch weiterhin Waffen und Geld zu erhalten – insbesondere auch mit Blick auf US-Präsident Trump:

„Der kleine Mann Selenskyj macht sich größer. Deswegen sucht er große öffentlichkeitswirksame Ziele. Das braucht er nach innen, um auch seine politische Position in der Ukraine zu festigen. Aber er braucht es auch vis à vis der Geberländer, zum Beispiel Europa, damit sie ihm weiter Geld und Waffen und Industrie liefern. Er braucht es, um Trump zu überzeugen, dass er ein Mitspieler ist, nicht nur derjenige, der die Prügel einsteckt bei ihm im Oval Office, sondern auch einer, der mitspielt. Deswegen braucht er diese großen Erfolge. Diese sind aber nicht wirklich zweckdienlich. Wenn ich aus diesem Krieg wieder raus will, sind sie eher kontraproduktiv. Und von daher tue ich mich schwer, das gut zu finden.“

Das jüngste Treffen in Istanbul wertet Thiele als ersten kleinen, aber wichtigen Schritt diplomatischer Kontaktaufnahme. Solche vorsichtigen Gesprächsformate seien notwendig, um überhaupt erst Positionen und Spielräume zu sondieren. Dass der Westen dies erst nach drei Kriegsjahren beginne, sei ein gravierendes Versäumnis. Dabei hätten erfahrene Diplomaten wie Wolfgang Ischinger schon früh darauf gedrängt, solche diplomatischen Grundlagen zu schaffen:

„Man schaut, wo ist denn der andere beweglich, damit man dann darauf aufbauend diplomatisch Fortschritte erzielt. Begleitet wird das Ganze derzeit immer von der Freilassung von Kriegsgefangenen. Das sind im Grunde Zeichen des guten Willens, den ja beide Seiten haben müssen, sonst käme es ja nicht zu diesem Austausch. Das heißt, hier bleibt eben das Fenster ein Stück weit offen, mit dem man zum Erfolg kommen kann. Aber man hört ‚könnte, könnte, könnte‘. Alles sehr labil, sehr schwierig, aber viel besser, als wenn alle Türen und Fenster verschlossen wären.“

Thiele kritisiert die politische Naivität westlicher Entscheidungsträger scharf. Der Unterschied zu früheren Generationen liege im Fehlen realer Kriegserfahrung – einst seien Politiker wie Kohl, Mitterrand oder Genscher vom Schrecken des Zweiten Weltkriegs geprägt gewesen und hätten die Sichtweise des Gegners einzubeziehen versucht: „Helmut Kohl wusste, wie schrecklich das Leben in Ludwigshafen unter Bombardement war, was der Krieg für Schrecken brachte.“

Heute dominiere moralischer Furor: Putin müsse bestraft werden. Diese Haltung ignoriere nicht nur reale Machtverhältnisse, sondern verhindere auch eine rationale Sicherheitsarchitektur:

„Es ist für mich als jemand, der die Friedensbewegung in dieser Hochzeit mit den Pershings erlebt hat, bizarr zu sehen, dass die, die den Sinn von Waffen für die Verteidigung, für die Abschreckung überhaupt nicht begreifen konnten, nun die Waffengänge befürworten.“

Gerade Deutschland verkenne seine Schwäche: „Wir schlagen mit moralischer Hybris um uns und wundern uns, wenn wir verlieren.“ Es fehle an echter Strategie – sowohl für den Krieg als auch für die Zeit danach. Trump dagegen wolle den Krieg schlicht beenden – nicht aus Friedenssehnsucht, sondern weil er die Ukraine als kostspielige Ablenkung von Amerikas wirtschaftlichen Interessen sieht, vor allem in Asien. Auch Putins Russland sei für ihn Teil einer künftigen geopolitischen Balance gegenüber China.

Putins Stärke bestehe nicht nur in seinem Zugriff auf Rohstoffe, sondern auch in seiner Fähigkeit, sein System über Narrative zu stabilisieren – trotz realer Missstände. Die russische Gesellschaft trage viele dieser Narrative mit, aus Mangel an alternativer Information und durch realpolitisch klug gesetzte Verbindungspunkte zwischen Propaganda und Lebensrealität.

Was die hybride Kriegsführung betrifft, konstatiert Thiele eine beunruhigende Asymmetrie: Russland operiere mit gezielten Angriffen auf Infrastrukturen, mit Drohnen, Cyberangriffen und psychologischer Zersetzung, während Deutschland nicht einmal in der Lage sei, Drohnen rechtssicher abzuschießen. Die Sicherheitsarchitektur sei zersplittert, selbst Grundfunktionen des Staates seien ausgehöhlt. Medien und Zivilgesellschaft müssten in die Resilienzbildung einbezogen werden – andernfalls steuere das Land auf einen Kontrollverlust zu.

Zudem sieht Thiele eine zunehmende Gefährdung durch Rückwirkungen des Ukrainekriegs auf Europa selbst: Billigdrohnen, Kriminalitätsstrukturen, technologischer Transfer von Know-how. Gerade das Wettrüsten bei Drohnen sei alarmierend – Russland nutze bereits robuste, schwer störbare Systeme, während Europa kaum Gegenmittel habe. Diese Entwicklung werde künftig auch zivile Räume erreichen: Erpressung, Attentate, Infrastrukturangriffe.

Thiele mahnt: Ein Waffenstillstand sei überlebensnotwendig – nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Europa:

„Wir haben keinen Überblick, wie wir aus diesem Krieg wieder rauskommen wollen. Wir haben kein Verständnis dafür, wie wir mit der Ukraine und auch mit Russland nach einem Krieg umgehen wollten.“

Ein Waffenstillstand müsse mit einer grundsätzlichen Neuausrichtung einhergehen: mehr Resilienz, klare politische Zielbilder, ein echter strategischer Plan. Sonst drohe nicht nur eine Niederlage auf dem Schlachtfeld, sondern ein gefährlicher Verfall unserer eigenen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung:

„Was wir tun, ist risikoreich, weil wir eben nicht mit Substanz unterwegs sind. Da ist aus meiner Sicht die größte Kriegsgefahr. Sie resultiert also weniger aus überheblichen machtpolitischen Vorstellungen Putins, weil wir ihn und das Rational, mit dem er agiert, ja kennen, sondern sie resultiert mehr aus Fehleinschätzungen, insbesondere hier auf unserer westlichen Seite. Da hoffe ich einfach, dass wir jetzt dazulernen und uns unsere Absichten auch mehr mit Tatkraft unterlegen.“

Publisher Logo

Dieser Artikel ist von Tichys Einblick

Klicke den folgenden Button, um den Artikel auf der Website von Tichys Einblick zu lesen.

Weitere Artikel