
Einem Bericht der Welt zufolge hieß es, dass Bundeskanzler Friedrich Merz die „nationale Notlage“ aufgrund der anhaltenden Migration nach Deutschland ausgerufen hat. Dem ist aber offenbar nicht so. Wie die Bild nun berichtet, hat die Bundesregierung die Ausrufung der „nationalen Notlage“ dementiert. Unabhängig davon ist es ohnehin fraglich, ob dies rechtlich überhaupt möglich wäre. Bereits in der vergangenen Legislatur war dies ein wesentlicher Streitpunkt zwischen der Union und der Ampel. Während die Union der Auffassung war, dass dies ohne weiteres möglich ist, sprach die Ampel immer wieder von rechtlichen Bedenken.
Die Ausrufung einer „nationalen Notlage“ müsste über Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erfolgen. Artikel 72 AEUV spricht selbst nicht ausdrücklich von einer „Notlage“, sondern erlaubt den Mitgliedstaaten, zum Schutz der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit in Ausnahmefällen vom EU-Recht abzuweichen. Die Folge ihrer Aktivierung im Rahmen der Migrationspolitik wäre, dass das Dublin-Abkommen ausgesetzt wäre. Umfassende Grenzkontrollen sowie die Zurückweisung von Migranten wären dann möglich.
Derzeitiger Status quo ist hingegen, dass Zurückweisungen regelmäßig nicht stattfinden. Die Dublin-III-Verordnung erlaubt keine unmittelbare Zurückweisung von Migranten an der Grenze, selbst wenn ein anderer EU-Staat für das Asylverfahren zuständig wäre. Stattdessen muss geprüft werden, welcher Mitgliedstaat zuständig ist, und die betreffende Person kann dann im Rahmen eines geordneten Dublin-Verfahrens in diesen Staat überstellt werden. Das bundesdeutsche Asylgesetz sieht hingegen sehr wohl Zurückweisungen vor. Da die Dublin-Regelungen jedoch als vorrangig betrachtet werden, findet das Asylgesetz praktisch keine Anwendung.
Mittels der Ausrufung einer „nationalen Notlage“ könnte man also das Dublin-Abkommen umgehen und stattdessen wieder auf nationales Recht zurückgreifen. Ob dieses Vorgehen am Ende rechtlich überhaupt möglich ist beziehungsweise der Europäische Gerichtshof (EuGH) dies billigt, ist jedoch überaus fraglich. In mehreren Entscheidungen führte der EuGH aus, dass eine Abweichung von EU-Sekundärrecht nur in „ganz bestimmten außergewöhnlichen Fällen“ zulässig ist, wenn sie wirklich erforderlich ist und keine milderen Mittel zur Verfügung stehen.
Die Mitgliedstaaten müssen objektive, belegbare Gründe vorlegen, und die Maßnahme muss verhältnismäßig sein. Damit ist man in der Vergangenheit immer wieder vor dem EuGH gescheitert. Zudem könnte Merz sich gegebenenfalls noch auf Artikel 78 Absatz 3 AEUV berufen. Dieser kann greifen, wenn sich ein EU-Mitgliedsstaat aufgrund eines „plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ befindet. Entsprechende „vorläufige Maßnahmen“ kann jedoch nur „der Rat auf Vorschlag der Kommission“ erlassen.
Der Europäische Gerichtshof urteilte, dass Grenzkontrollen innerhalb der EU grundsätzlich nicht zulässig sind. Ausnahmen seien nur möglich, wenn eine ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit vorliegt. In solchen Fällen dürfen Grenzkontrollen für maximal sechs Monate eingeführt werden, eine unbegrenzte Verlängerung ist jedoch nicht erlaubt. Grenzkontrollen auf österreichische Initiative hin wurden zuletzt 2022 vom EuGH für rechtswidrig erklärt.
Dass der EuGH Merz für umfassende Grenzkontrollen die Absolution erteilt, ist also überaus unwahrscheinlich. Selbst wenn man ein entsprechendes Vorgehen billigen würde, dann wohl nur für eine befristete, maximal wenige Monate andauernde Zeit. Wenn Friedrich Merz mit seiner groß angekündigten „Migrationswende“ ernst machen will, wird er wohl nicht davon abkommen, aus dem Dublin-Abkommen auszusteigen und sich wieder auf das bundesdeutsche Asylgesetz zu berufen oder die Dublin-Verordnungen erheblich zu reformieren. Ob er dazu die Kraft hat und der Koalitionspartner SPD mitspielt, ist fraglich.