
Die Regierungserklärung gehört zur Königsdisziplin eines jeden Kanzlers. Es sind Momente, die dem jeweiligen Amtsinhaber die volle Aufmerksamkeit sichern. Als Olaf Scholz nun vor die Abgeordneten des Bundestags trat, war es nicht anders. Doch der SPD-Politiker hielt eine seltsame Rede, in der er das wesentliche Thema, die Migration, aussparte.
Olaf Scholz bei seiner Regierungserklärung im Bundestag.
Der kuriose Auftritt zeigt: Erst war die Wirklichkeit vor Olaf Scholz auf der Flucht, dann der Wähler, und nun nimmt auch die Sprache Reißaus. Soeben soll der Kanzler in der eigenen SPD-Fraktion mit der Vertrauensfrage gedroht haben, wenn die Genossen dem sogenannten Sicherheitspaket der Regierung nicht zustimmten. Die Vorstellung ist bizarr, denn kaum jemand in Deutschland vertraut Scholz noch. Fast regelmäßig greift dieser auch zum ultimativen Machtwort, der Richtlinienkompetenz, um widerborstige Koalitionspartner zur Räson zu bringen. Auch das hat Züge sprachlicher Komik. Mit jedem Machtwort entlarvt Scholz sich als machtlos, und jede Richtlinie erscheint im Licht seines Regierungshandelns wie das trudelnde Kreisen einer betrunkenen Hummel.
Nun fand die Absurdität des Kanzlers im Umgang mit der Wirklichkeit, dem Wähler und der Sprache einen Höhepunkt. Angekündigt war an diesem Mittwoch eine Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag – als wäre es möglich, die chaotische Politik der „Ampel“ auf irgendeine Weise zu erklären. Zudem war als Anlass der halbstündigen Rede der bevorstehende Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU angegeben. Über das wichtigste Thema des Europäischen Rats aber, das zugleich das drängendste Problem Europas ist, verlor der Kanzler kein Wort. Olaf Scholz weigerte sich, über Asyl und Migration zu reden. Damit setzte er neue Maßstäbe in seiner Lieblingsdisziplin, der Realitätsverdrängung.
Doch seien wir gerecht: Einmal, für die Dauer weniger bezeichnender Sekunden, nahm Scholz das Wort „Zuwanderung“ in den Mund. Dank seiner Regierung, behauptete Scholz, könne das „Fachkräftepotenzial genutzt“ werden, „auch durch Zuwanderung aus dem Ausland“. Ausschließlich als Bereicherung für den Arbeitsmarkt, die sie pauschal gerade nicht ist, findet die Migration Gnade vor dem Kanzler. Deutlicher lässt sich ein Parlament, das das deutsche Volk vertritt, kaum veralbern. Der Kanzler hält es offenbar für unter seiner Würde, den Deutschen mitzuteilen, welche asyl- und migrationspolitischen Positionen seine Regierung auf europäischem Parkett vertreten wird.
Das von Scholz ausgesparte Thema hat das Potenzial, die EU zu spalten, wenn nicht gar ihr Ende einzuleiten. Bei seiner letzten Regierungserklärung aus demselben Anlass, im Juni dieses Jahres, sagte Scholz immerhin: „Wir sind eine offene Gesellschaft, eine Gesellschaft, die zusammenhält, die auf den Talenten und den Fähigkeiten vieler aufgebaut ist, auch derjenigen, die zu uns gekommen sind. Gleichzeitig gehört aber eben auch das Management der irregulären Migration dazu.“ Selbst das war unterkomplex, ist es doch ein weiter Weg vom bloßen Management zur Reduktion einer Zuwanderung, unter der der gesellschaftliche Frieden ebenso leidet wie der Staatshaushalt und die innere Sicherheit.
Nicht einmal zu dieser Floskel wollte Scholz sich diesmal aufraffen. Auch eine weitere Regierungserklärung zum selben Anlass, im März, war rückblickend ein Ausbund an Klarheit: „Einen besseren Grenzschutz“, hieß es damals, „brauchen wir und mehr Solidarität unter den europäischen Staaten.“ Auch müssten „wir“ das „Management der irregulären Migration besser in den Griff kriegen.“
Der Kanzler wild fuchtelnd am Rednerpult.
Nun hingegen schimpfte der Kanzler wie ein Rohrspatz auf die Opposition, auf die AfD und den BSW und ganz besonders auf CDU/CSU. Schrill wurde er, fuchtelte mit den Armen und gab der Union die Schuld am schlechten Zustand Deutschlands: „In den letzten Jahrzehnten ist hier zu viel liegen geblieben.“ Wie stets übersah Scholz, dass seine SPD seit 1998 an fast allen Bundesregierungen beteiligt war.
Letztlich hielt Scholz eine Wahlkampfrede, tauglich für das Schützenfest in Uelzen, deplatziert im Bundestag. Er pries Errungenschaften, die außer ihm niemand zu sehen vermag im Land der Rezession, der Massenmigration, der antisemitischen Kundgebungen und des täglich rauer werdenden sozialen Klimas: eine Entlastung für Unternehmen „durch die CO2-Preiskompensation“, die „Entfesselung“ der erneuerbaren Energien, die Beschleunigung zahlreicher Genehmigungsverfahren. Er kündigte einen „Pakt für Industriearbeitsplätze“ an und ein „Gespräch im Kanzleramt“ von Gewerkschaften, Unternehmen, Verbänden. Er forderte als Olaf Scholz, nicht im Namen der Regierung, eine „neue industriepolitische Agenda“. Und ergänzte: „Ich bin also dafür.“ Und die EU möge bitte den „Rückbau von Berichtspflichten“ und die Kapitalmarktunion voranbringen.
Zusammengehalten wurde die skurrile Rede von ihren Auslassungen, getrieben von der Angriffslust des Wutbürgers Scholz. Wie üblich schmückte Scholz fast jede Aussage mit der Beteuerung, es handele sich um eine „klare“. So sorgte er zwischen „klarer Botschaft“, „klaren Prinzipien“ und „großer Klarheit“ für Verwirrung. Niemand weiß nun, welche Schlüsse die Bundesregierung aus der Auflehnung Ungarns, Polens und der Niederlande gegen das dysfunktionale europäische Asylrecht zieht. Der Kanzler hält sein Volk im Unklaren, ob es irgendein Konzept gibt, um die Einwanderung in die Kriminalitätsstatistik zu stoppen und den Zuzug an wirklichen Fachkräften zu forcieren. Der Verdacht liegt nahe: Ein solches Konzept gibt es nicht.
Während Scholz redete, beschäftigte sich sein Kabinett auf der Regierungsbank mit dem Smartphone oder studierte Unterlagen. Die Minister zeigten kein Interesse an den Ausführungen des Kanzlers. So verfestigte sich ein trüber Eindruck am sonnigen Oktobertag: In dieser Regierung ist jeder sich selbst der Nächste – und Scholz ein Kanzler ohne Land.
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