
Der Untergang des Westens ist schon aus kulturphilosophischer Perspektive wahrscheinlich. Der Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee (1889–1975) hat in seinem Monumentalwerk „A Study of History“ (Der Gang der Weltgeschichte) Aufstieg und Niedergang von 26 Zivilisationen erforscht. Bei allen äußerlichen Unterschieden erkannte er, dass sie alle letztlich nicht an den jeweils verschiedenen äußeren Ursachen, sondern an sich selbst zugrunde gegangen sind.
Die untergehenden Kulturen hätten sich nicht um die Ursachen ihres Sterbens und nicht ausreichend um unmittelbare Bedrohungen gekümmert, deshalb seien sie untergegangen. Am bekanntesten ist der eifernde Diskurs der Stadtherren von Byzanz über die Natur des Engels, als die Osmanen bereits vor den Toren standen.
Toynbee hatte weiterhin erkannt, dass das Vordringen oligarchisch organisierter Gruppen in untergehenden Kulturen zu ihrer immer despotischeren Herrschaftssicherung übergeht. Im heutigen Deutschland vollzieht sich die Oligarchisierung längst im Rahmen eines Regimes, welches Bildungsstätten, Medien, eine staatlich finanzierte Zivilgesellschaft, Justiz und selbst Oppositionsparteien als Ersatzspieler umfasst.
Wichtig an Toynbees Analyse sind auch seine Therapievorschläge. Demnach vermögen nur neue kreative Minderheiten, die Herausforderungen der selbstmörderischen Umtriebe der neuen Oligarchien zu wenden. Sie müssen heute jene tragfähigen Synthesen zwischen Globalismus und Nationalismus, Offenheit und Sicherheit, Freiheit und Ordnung, ökonomischen Vernetzungen und dezentralisierten politischen Strukturen finden.
Gerade die sich aus ihrer Sachlogik ergebenden globalen Prozesse in Wissenschaft, Technik und Ökonomie erfordern die Konnektivität in Wissenschaft, Technik und Ökonomie und daher auch weltweiter Netzwerke. Damit diese sich nicht von den konkreten Sorgen der Local Player abwenden, bedarf es andererseits umso mehr der dezentralen politischen Strukturen wie vor allem souveräner Nationalstaaten. Die Netzwerke müssen wiederum von den meist nationalstaatlich gebildeten Knoten zusammengehalten werden.
So wie einst die Unterscheidung von Religion und Politik und die strukturelle Trennung von Kirche und Staat die Grundlage für die ausdifferenzierte Moderne des Westens bildete, so brauchen wir heute eine neue Unterscheidung zwischen einer ersatzreligiös-globalistischen Regenbogenpolitik und einer auf Selbstbehauptung des Eigenen abzielenden Realpolitik.
Wenn über auseinanderfallende Konzeptionen Europäer und Amerikaner weiter unterschiedliche Wege gehen sollten, wird sich die nur kulturhistorisch untermauerbare Idee des Westens auflösen. Amerikas Kultur lässt sich aber nicht von der europäischen trennen. Sie ist in vielerlei Hinsicht ein Produkt europäischer Philosophie und der Migrationsbewegungen, die aus Europa kamen. Dem von seiner Vergangenheit entfremdeten und geistig-moralisch verwahrlosten Westeuropa bleibt derzeit vor allem die Hoffnung, dass von den USA Impulse zur Wiedergewinnung der eigenen Kultur nach Europa ausgehen könnten – so wie immer Gutes und Schlechtes von dort nach Europa „übergeschwappt“ ist. Vielleicht ist es wiederum eine List der Geschichte, dass der neue Papst aus den USA als Mann der Mitte und des Ausgleichs zu neuen Synthesen beitragen kann.
Auch Europa muss für Sprünge von der Dekonstruktion zu neuer Rekonstruktion Anlauf nehmen. Eine Möglichkeit ergibt sich meist aus Notwendigkeiten. Die Rückkehr zur Selbstbehauptung des Eigenen wird die Europäer zwingen, für sich selbst mehr Verantwortung zu übernehmen. Dies bedingt wiederum, die eigenen Grenzen nach außen zu beachten und nach innen zu beschützen.
Bis zu einer fernen Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit wären die Europäer gut beraten, ihre Stärke nicht gegen die USA, sondern komplementär zu ihnen im Rahmen des westlichen Nato-Bündnisses zu suchen. Im Hinblick auf die alle entwickelten Mächte umbrandende Barbarei wäre langfristig sogar nach Komplementaritäten zwischen Russland, China und dem Westen zu suchen.
Die Beschwörung der Vergangenheit wird oft als rückwärtsgewandte Utopie gekennzeichnet. Dies gilt aber nicht, wenn es sich um zeitlos gültige Werte und Strukturen handelt. Die Frage nach der Möglichkeit einer Renaissance einst untergegangener Werte und Strukturen beantwortet sich aus dem Blick in die Geschichte. Kulturen sind zerstörbar, wandelbar und wieder aufbaubar.
Spanien war 781 Jahre von Muslimen besetzt und wurde doch wieder eine christliche und später eine demokratische Nation. Europa hat den Dreißigjährigen Krieg und zwei Weltkriege überstanden, nicht indem es sich ganz neuen Ideen, sondern indem es sich den besseren Elementen seiner eigenen Kultur zugewandt hat. Christentum, Aufklärung oder bürgerliches Pflichtenethos wurden nicht überwunden oder neu erfunden, sondern rekonstruiert.
Bei der Rekonstruktion des Westens geht es nicht um Nostalgie, sondern um Notwendigkeiten. Wenn dies nicht im Großen und Ganzen gelingen sollte, bleibt nur noch die Hoffnung auf jene Rettungsboote, deren Passagiere nach der Sintflut die wichtigsten Elemente der eigenen Kultur zu neuem Leben erwecken.
Als Voraussetzung für alle weiteren Rekonstruktionen wäre erst einmal die größte Kulturleistung des Westens wieder zu beleben: jenes freien Denkens in offenen Diskursen, welches noch vor Jahrzehnten als selbstverständlich galt und welches jene Produkte und Strukturen hervorzubringen half, welche die gesamte Welt in Bann zu schlagen vermochten. Ein daraus hervorgehendes dialektisches Denken könnte dann auch die Spaltungen der westlichen Gesellschaft überwinden. Da der erste Schritt zur Rekonstruktion einer offenen Gesellschaft in der Wiederaufnahme freier Diskurse besteht, kann jeder denkende und mutige Bürger dazu seinen Beitrag leisten.
Prof. Dr. Heinz Theisen, Jahrgang 1954, lehrte bis 2020 Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und an Universitäten im Nahen Osten. Er arbeitet als freier Autor unter anderem für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Tichys Einblick“ und „Die Neue Ordnung“. Schwerpunkte sind: die Rolle des Westens in der neuen Weltordnung, Konflikte der Kulturen, Europa und der Nahe Osten. Sein Werk „Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“ ist im TE Shop erhältlich.