
Vor knapp zwei Wochen sah es noch so aus, als würden die USA und die EU an einem Strang ziehen. Nach einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj hatte Trump zu einer „bedingungslosen Waffenruhe von dreißig Tagen“ aufgerufen und andernfalls weitere Sanktionen gegen Moskau in Aussicht gestellt. Im Vorfeld seines Telefonats mit Putin hatte der amerikanische Präsident dem Kreml eine klare Botschaft gesendet. Es sei die letzte Chance, den Krieg zu beenden. Nach dem jüngsten Telefonat zwischen Trump und Putin standen die Europäer jedoch allein da. Von einer bedingungslosen Waffenruhe oder US-Sanktionen war plötzlich keine Rede mehr.
In einem Beitrag in den sozialen Medien fiel Trump hinter die Positionen zurück, die er noch in den vergangenen Wochen vertreten hatte. Darin war nicht mehr von einer sofortigen oder bedingungslosen Waffenruhe die Rede, sondern nur noch von sofortigen Verhandlungen darüber. Diese will er nun den beiden Kriegsparteien überlassen, womöglich auch dem Vatikan. Wie eine mit dem Gespräch vertraute Person der New York Times berichtete, drehte sich das Telefonat größtenteils um das wirtschaftliche Potenzial einer gemeinsamen Handelsbeziehung zwischen Washington und Moskau.
In der Öffentlichkeit hat die Ukraine versucht, jede Andeutung von Kritik an Washington zu vermeiden, seit Präsident Selenskyj von Trump im Februar im Weißen Haus zurechtgewiesen wurde. Im Streben nach einem Waffenstillstand hat Kiew bereits mehrere Zugeständnisse gegenüber den USA gemacht. Dazu gehörten der Verzicht auf Sicherheitsgarantien vor Beginn der Gespräche, die Unterzeichnung eines Abkommens über Rohstoff- und Wirtschaftspartnerschaften sowie eine Reise des ukrainischen Präsidenten in die Türkei, um trotz der Abwesenheit des Kreml-Chefs Verhandlungen zu führen.
Eine Quelle aus Selenskyjs Umfeld sagte gegenüber dem Economist, Trump habe bereits den Eindruck vermittelt, er entwickle eine Ausstiegsstrategie, nachdem ihm klar geworden sei, dass er nur schwer einen Durchbruch bei den Gesprächen über die Ukraine erzielen könne.
Die Trump-Wende ist vor allem ein Rückschlag für Bundeskanzler Friedrich Merz. Der deutsche Regierungschef schien sich darauf verlassen zu haben, dass Trump hinter dem Plan stand, als er Russland ein Ultimatum stellte und mit Sanktionen drohte. Nun aber stehen Merz und weitere europäische Regierungschefs doch ohne den US-Präsidenten da. Während des jüngsten EU-Besuchs in Kiew telefonierten Merz, der französische Präsident Emmanuel Macron, der britische Premierminister Keir Starmer und der polnische Premierminister Donald Tusk mit Trump.
Anschließend twitterte Merz an die Kreml-Führung gerichtet: „Wir fordern Russland auf, ab Montag einen bedingungslosen Waffenstillstand von 30 Tagen umzusetzen. Gemeinsam mit Präsident Trump werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die Ukraine zu unterstützen – einschließlich der Ausweitung von Sanktionen.“ Die Frist ist längst verstrichen. Der Gipfel in Istanbul blieb ohne Ergebnis, und Trump zog sich erst einmal aus dem Ukraine-Konflikt zurück, um sich auf weitere Themen in der Weltpolitik zu fokussieren.
Schon letzte Woche hatten sich EU-Botschafter auf ein 17. Sanktionspaket gegen Russland verständigt. Das Paket mit Strafmaßnahmen sieht unter anderem ein verschärftes Vorgehen gegen die sogenannte russische Schattenflotte für den Transport von Öl und Ölprodukten vor. Zudem wurden Dutzende weitere Unternehmen ins Visier genommen, die an der Umgehung bestehender Sanktionen beteiligt sind oder die russische Rüstungsindustrie unterstützen. Die Wirkung der neuen Sanktionen der EU gegen Moskau sollte man nach den Erfahrungen mit den bisherigen Strafmaßnahmen aber nicht überschätzen.
Nach Informationen von Reuters will die Ukraine jetzt von der EU fordern, nach Inkrafttreten des Sanktionspakets Nr. 17 neue Schritte zur „Isolierung Moskaus” in Erwägung zu ziehen. Ein bisher unveröffentlichtes ukrainisches Weißbuch, das der EU vorgelegt werden soll, fordert die 27 Mitgliedstaaten des Blocks auf, eine aggressivere und unabhängigere Position zu Sanktionen einzunehmen, da die zukünftige Rolle Washingtons ungewiss ist. Das Weißbuch zu den Sanktionen hebt die „beispiellosen“ Sanktionen hervor, die die EU bisher verhängt hat, und spricht von ihrem Potenzial, weiteres zu unternehmen. Die EU solle eine Reihe von Maßnahmen in Erwägung ziehen, um ihre Sanktionen über das eigene Territorium hinaus zu verschärfen, darunter die gezielte Verfolgung ausländischer Unternehmen, die ihre Technologie zur Unterstützung Russlands einsetzen, „sowie die Einführung von Sekundärsanktionen gegen Käufer von russischem Öl“. Solche sekundären Sanktionen, von denen große Abnehmer wie Indien und China betroffen sind, wären ein riskanter Schritt, den die EU bisher nicht unternommen hat. Trump hatte dies zwar öffentlich diskutiert, bevor er aber beschloss, vorerst nicht zu handeln.
Die Ukraine ist derzeit besorgt, dass ein Abweichen Washingtons von dem westlichen Konsens über Sanktionen auch zu Unentschlossenheit in der EU führen könnte, die traditionell einen Konsens für wichtige Entscheidungen benötigt. Die EU kann allerdings das Gewicht der Vereinigten Staaten, wenn es um die Ausübung wirtschaftlichen Drucks auf Russland geht, nicht vollständig ersetzen. Ein Großteil der Auswirkungen der US-Sanktionen ist vor allem auf die Dominanz des US-Dollars im Welthandel zurückzuführen. Diese Dominanz kann der Euro nicht erreichen. Hinzu kommt: Die EU-Staaten haben in diesem Jahr schon 23 Milliarden Euro für die Unterstützung der Ukraine in Aussicht gestellt, etwas mehr als im gesamten Vorjahr. Doch müssen sie nun auch den Ausfall der USA kompensieren. Wie das gelingen soll, ist weiter unklar.
Es ist zudem unwahrscheinlich, dass die EU sich wegen Selenskyj mit den aufstrebenden Weltmächten wie Indien und China anlegen würde. Die EU und Indien stärken vor allem derzeit die strategischen Beziehungen. Die EU und Indien haben bereits eine Wiederaufnahme ihrer seit acht Jahren ausgesetzten Gespräche über ein Freihandelsabkommen beschlossen. Hintergrund der Projekte ist die gemeinsame Sorge vor einem weiteren Erstarken Chinas. Seit US-Präsident Trump alle Welt mit Zöllen überzieht, scheint sich auch das Verhältnis zwischen der EU und China zu entspannen. China hat kürzlich die alten Sanktionen gegen einige EU-Abgeordnete aufgehoben.
Bemerkenswert war, dass Ursula von der Leyen wenige Tage, nachdem Trump seine „gegenseitigen Zölle” vorgestellt hatte, ein Telefonat mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang führte, um bilaterale Fragen und die Lage der Weltwirtschaft zu erörtern. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass die Hardliner in Brüssel bereit sind, ihre Partnerschaft mit wichtigen Drittstaaten in Asien für die Ukraine zu gefährden