
Als sich in der Wahlnacht Tausende meist junge Rumänen vor dem Hauptquartier des Bukarester Bürgermeisters Nicusor Dan versammeln, können sie ihr Glück kaum fassen. „Ni-cu-sor! Ni-cu-sor!”, skandieren sie, und schwenken EU-Fahnen. Dan, der noch nicht einmal eine eigene Partei hat, hat die größte Überraschung in der Geschichte der noch jungen rumänischen Demokratie geschaffen. Noch nie hat ein Kandidat mit so großem Rückstand in der ersten Runde dann so klar die Stichwahl gewonnen. „Und noch nie ein Kandidat, der ganz von außerhalb des etablierten Parteiensystems kam” sagt Catalin Tolontan, einer der angesehensten Journalisten des Landes.
21 Prozent der Stimmen hatte Dan in der Vorrunde erhalten, gegen 41 für den radikal rechten Kandidaten der AUR-Partei, George Simeon. Doch nun Dan steht auf einem Balkon in Bukarests Innenstadt und winkt in die jubelnde Menge: 53,6 Prozent, er ist Staatspräsident. Den Ausschlag gaben die Städte, und ganz entscheidend die ungarische Minderheit des Landes. Sie gingen zahlreich wählen, und stimmten mit bis zu 90% für Dan. In der LIve-Sendung des Kanals Antena 3 gab es spontanen Applaus für das mehrheitlich ungarische bevölkerte Komitat Hargita, als dessen Ergebisse auf dem Bildschirm erschienen. Das ist auch neu: Eine ganz neue, freundliche Stimmung im historisch belasteten Verhältnis zwischen Rumänen und Ungarn.
Und Simion mag bereuen, dass er früh in seiner Karriere einen strategischen Fehler beging: Er ließ es zu, dass seine Anhänger gegen die ungarische Minderheit hetzten, um radikale Proteststimmen zu sammeln. Das ist der Unterschied zwischen ihm und anderen konservativen, patiotischen Parteien in Europa: AUR enstand aus Fremdenhass, obwohl man die eigenen Bürger wohl kaum „Fremde” nennen kann, bloß weil sie einer anderen Volksgruppe angehören.
Draußen in der feiernden Menge steht ein junger Mann still lächelnd an einer Häuserwand. „Zum ersten Mal hatten seit der Revolution 1989 hatten wir eine echte Wahl” sagt Catalin Apostol (39), ein Ingenieur. „Bislang haben immer dieselben Parteien das Spiel unter sich ausgemacht. Jetzt hatten wir zwei Kandidaten mit ganz anderen Ideen, und beide gehörten nicht zu den alten Eliten”. Nicusor Dan mag er, weil „er als Bukarester Bürgermeister die Stadt verändert hat”. Dan, ursprünglich Mathematiker, kommt aus der Zivilgesellschaft, er gründete eine Vereinigung namens „rettet Bukarest” (ASB), und erzielte in zahlreichen Gerichtsverfahren gegen die „Immobilienmafia” spektukläre Siege. Das machte ihn beliebt, und so gewann er 2020 die Bukarester Bürgermeisterwahl.
„Er hat alles umgekrempelt”, schwärmt Apostol. Frühere Bürgermeister hätten die Stadt regelrecht ausgeplündert, sagt er. Sie hätten Unternehmen gründen lassen, die ihren Verwandten und Gefolgsleuten gehörten, die öffentlichen Aufträge gingen dann immer an solche Unternehmen. „Es war eine Geldmaschine” meint auch Gabriella Simionescu, eine Englischlehrerin. Sie war von Anfang an dabei in Dan’s Vereinigung, kennt ihn seit 20 Jahren. „Der klügste, liebste Mensch den man sich vorstellen kann”, meint sie.
Genauso spektakulär wie Nicsor Dan’s Sieg ist freilich der kometenhafte Aufstieg des unterlegenen Kandidaten, George Simion, Noch vor einem Jahr konnte sich kaum jemand vorstellen, dass er einmal überhaupt eine Chance haben werden, Staatspräsident zu werden. Dennoch klappte es fast – vom Chef einer relativ kleinen Protestpartei wurde aus ihm binnen kürzester Zeit der Anführer einer Massenbewegung, und die 46,4 Prozent, die er am Ende bekam, waren für seine noch relativ kurze Laufbahn atemberaubend viel. Er ist noch jung, seine Partei stark – er bleibt wohl ein Faktor der rumänischen Politik für die nächsten Jahre.
Andreea, eine Jurastudentin, gerät ins Schwärmen wenn sie über Simion spricht. „Natürlich habe ich für ihn gestimmt”, sagt sie. „Er kommt aus bescheidenen Umständen, ein einfaches, schuldloses Kind des Volkes – genau wie ich”. Auch politisch gefällt ihr Simions souveränistischer Kurs: „Ich will nicht pro-europäisch sein, sondern pro-rumänisch”, sagt sie.
Freilich war es am Wahltag nicht einfach, in Bukarest Simion-Wähler zu finden. Die Stadt stimmte massiv für Nicusor Dan, und Simions Anhänger weigerten sich meist, Journalistenfragen zu beantworten.
Im fünten Bezirk der Stadt, ein kleines Parteibüro der AUR – Vorhänge zugezogen, sieht geschlossen aus. Aber auf ein Klopfen an der Tür wird diese doch geöffnet, wir werden hereingebeten. Drei AUR-Mitarbeiter drin, die offenbar wenig zu tun haben. Nein, sagen sie, AUR sei nicht Ungarn-feindlich, das sei eine Lüge, und ihr Wirtschaftsprogramm sei auch sehr modern. Sie telefonieren irgendwohin: „Da sind Journalisten hier”. Eine halbe Stunde später erscheint die Parlamentsabgeordnete Lidia Vadim-Tudor, Tochter des verstorbenen, einstigen Nationalisten aus wortgewaltigen Ungarn-Hassers Vadim Tudor. Auf die Frage, ob sie ein Interview geben würde, telefoniert auch sie irgendwo hin. Dann schickt sie uns zur Parteizentrale, dort können wir uns anmelden für eine Pressekonferenz mit Simion am Abend.
Die Parteizentrale ist leer, kein Mensch da. Eine Pressekonferenz gibt es am Abend auch nicht. Nur online erklärt er sich gleich nach Schließung der Wahllokale zum Sieger: zuvor hatte er den Behörden Wahlbetrug vorgeworfen.
Aber im Laufe der Nacht erkennt Simion plötzlich seine Niederlage an, und zieht auch seine Wahlbetrug-Vorwürfe zurück. Er hat erkannt: Um eine politische Zukunft zu haben, muss er sich ändern, vom Krawallmacher zum seriösen Politiker.
Mit dieser Wende entkräftete Simion auch mit ihm sympathisierende Kritiker, die hinter der plötzlichen Wende des Kriegsglücks in Rumänien dunkle Machenschaften vermuten. Obwohl es durchaus Versuche gab, die Wahl zu manipulieren. So postete der Gründer der Social Media-Plattform Telegram, Pawel Durow, dass der französische Geheimdienst ihn gebeten habe, konservative Stimmen in Rumänien vor der Wahl einzuschränken. Er habe sich aber geweigert.
Und nun? „Ein neues Zeitalter der Stabilität” kündigte Nicusor Dan in der Wahlnacht an. Erst einmal muss er eine neue Regierung bilden, denn die alte gibt es nicht mehr – sie zerfiel zwischen der Vorrunde und der Stichwahl.
Nun will Dan mit „allen demokratischen Parteien” verhandeln – also die sozialdemokratische PSD, die sich geweigert hatte, ihn zu unterstützen, die liberale USR, der er einst selbst gründete, bevor man ihn später aus der Partei ausschloss, weil er „sozial konservativ” ist, die christdemokratische PNL, deren eigener, in der Vorrunde gescheiterte Präsidentschaftskandidat Crin Antonescu sich weigerte, in der Stichwahl Dan zu unterstützen, und die Partei der Rumänien-Ungarn. Denen kann Dan vertrauen, sie haben sich voll hinter ihn geworfen. Aber sie sind eine kleine Partei, erhielten bei den letzten Wahlen sechs Prozent der Stimmen.
Catalin Tolontan, wie gesagt einer der am meisten geachteten und beachteten Journalisten des Landes, fürchtet angesichts dieser Konstellation, dass statt einem Zeitalter der Stabilität ein Zeitalter des Chaos folgen könnte: Jede denkbare Koalition ist eine Garantie für Streit und politische Krisen. Und Neuwahlen würden nur AUR stärken.
Boris Kálnoky mit Zsigmond Ábel