
Die Mehrheit, mit der Friedrich Merz seine umstrittenen Grundgesetzänderungen durchpeitschen will, ist hauchdünn: Nur 35 Stimmen mehr als notwendig hätte Merz mit Union, SPD und Grünen. Und auch die kommt nur zustande, wenn jede der Parteien mitzieht.
Aber das ist alles andere als sicher. Allein bei den Grünen sind es 46 Abgeordnete, die dem neuen Bundestag nicht mehr angehören werden. Bei der SPD sind es 95, bei der Union 48. Sie haben nichts zu verlieren und in der Abstimmung ein wirklich freies Mandat – sie können Merz scheitern lassen. Und jeder könnte seine Gründe dafür haben.
Doch Merz weiß davon noch nichts. Während um ihn herum die Zweifel wachsen, zeigt der CDU-Chef bereits erste Anzeichen von klassischer Entrücktheit an der Macht – noch bevor er sie überhaupt sicher hat. Der zukünftige Kanzler wackelt – und hat das offenbar noch nicht ganz realisiert.
Dem beschriebenen Szenario begegnet er mit einer Nonchalance, die irritiert. Viele Politiker in der Union haben begriffen, wie dünn der Faden ist, an dem die Kanzlerschaft Merz hängt. Doch ob das bei Merz selbst der Fall ist? Daran wachsen die Zweifel – was nicht zuletzt an ihm liegt.
Der CDU-Chef ist in seinem Kopf schon Bundeskanzler und tritt so auf. Anstatt sich um die Abstimmung im Bundestag zu kümmern, von der seine politische Zukunft abhängt, spielt er lieber den Staatsmann auf der internationalen Bühne. Vergangene Woche reiste er nach Brüssel, traf dort Ursula von der Leyen, den NATO-Generalsekretär oder die Köpfe der europäischen Christdemokraten. Mit Blaulicht-Eskorte durch Brüssel, das macht Spaß und fühlt sich wichtig an. Kanzler-Stimmung. Doch Kanzler ist Merz noch nicht.
„Germany is back“, will er vermitteln. Und genießt ganz offenbar den internationalen Glanz ein bisschen zu sehr. Der Absturz zurück auf den harten Boden der Realität könnte schmerzhaft werden, wenn Merz am Dienstag scheitert.
Und dagegen tut er wenig. Im politischen Berlin sieht man ihn nicht im metaphorischen Schützengraben. Er scheint nicht zu kämpfen um seine Kanzlerschaft – das sollen andere machen. Abgeordnete bearbeiten, Telefon-Listen mit MdBs abtelefonieren, Kontakte knüpfen und strategische Beziehungen aufbauen – all das macht Merz dem Vernehmen nach nicht.
Stattdessen gehe Merz mit einer fahrlässigen Sorglosigkeit an die Situation heran, beklagen CDU-Abgeordnete gegenüber dem Spiegel. In diesem Stil werde die Abstimmung im Bundestag vorbereitet. Der Parteichef, so wird intern beklagt, entscheide vieles zudem allein, umgebe sich mit Jasagern, frage nur selten um Rat und gehe oft mit einem großen Selbstbewusstsein in entscheidende Gespräche, welches dem Niveau seiner Vorbereitung nicht entspricht. Ein prominenter CDU-Mann ätzt, Merz‘ Führungsverhalten sein schon in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts aus der Mode gekommen.
Merz informiert nur seine allerengsten Vertrauten – selbst CDU-Generalsekretär Linnemann ist relativ außen vor, wird berichtet. Die Fraktion erfährt von Einigungen wie dem Finanzpaket überrascht aus der Presse – die SPD handhabt es anders, klüger, und bindet ihre Leute mit ein. Merz hält das nicht für nötig. Er meint: Er wird auch so Kanzler.
Dieses Anspruchsdenken bei zeitgleich minimalem Einsatz könnte sein Ende sein – erachtet sich Merz schon als zu hoch dafür, sich in den Morast des politischen Berlins zu knien? Helmut Kohl und Angela Merkel, die machtpolitischen Giganten der Union, waren da klüger. Die bearbeiteten wackelnde Abgeordnete auch mal über Stunden selbst am Telefon. Etwas, wofür Merz sich offenbar zu fein ist.
Auch und ausgerechnet in dieser Lage: Merz setzt sich beispielsweise nicht mit den Landesgruppenchefs zusammen, berichtet der Spiegel – so würde man es strategisch angehen, um die potenziellen Wackelkandidaten in den eigenen Reihen zu identifizieren und anschließend zu bearbeiten. Merz aber belässt es bei Zählappellen in den Landesgruppen, die tatsächlichen Mehrheiten sollen andere, unter ihm, organisieren.
Sein Motto: Nicht mein Problem. Aus der Fraktion heißt es, Merz wisse vielleicht gar nicht, auf wen er sich am Dienstag verlassen könnte. Es wird zunehmend vorstellbar, dass Merz am Ende an den eigenen Parteifreunden scheitern könnte, die die CDU vor dem totalen Ausverkauf bewahren wollen.
Auf den schweren Fortgang der Gespräche reagiere der CDU-Chef zunehmend gereizt – eine alte Schwäche von Merz. Die Grünen erleben CSU-Landesgruppenchef Dobrindt dem Bericht zufolge schon als umgänglicher im Vergleich. So richtig Lust auf die Koalitionsverhandlungen hat er schon jetzt nicht mehr. Merz spielt lieber den Staatsmann, der er noch nicht ist: Er reist nach Brüssel oder telefoniert lange mit europäischen und weltweiten Staats- und Regierungschefs. Die Details der Koalitionsverhandlungen aber – darum sollen sich andere kümmern.
Vielleicht sollte er weniger seine weltweite Telefonliste durchklingeln, sondern mal bei den Grünen vorsprechen – nicht auf der Mailbox – und seine Kanzlerschaft überhaupt fix machen. Doch davon hat er sich längst entkoppelt, so scheint es. Merz zeichnet sich schon jetzt durch einen Realitätsverlust aus, der Bundeskanzler normalerweise erst gegen Ende ihrer Amtszeit ereilt.
Selbst der notorisch entkoppelte Scholz hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Bodenhaftung verloren – Merz schwebt bereits völlig losgelöst. Die Sorge in der Union wächst. Selbst, wenn Merz mit diesem Führungsstil irgendwie sein Milliardenpaket schnürt und ins Kanzleramt kommt – für die Auseinandersetzung mit Putin, Trump oder Xi Jinping reicht diese Art, mit der er schon an den Grünen zu scheitern droht, nicht.
Und wenn er scheitert und den Schulden-Coup am Dienstag nicht durchbekommt, hat er sämtliches politisches Kapital verspielt und nichts in der Hand – dafür aber links und rechts viel Porzellan zerschlagen. Die Demontage des Friedrich Merz – sie läuft bereits auf Hochtouren. Und Merz selbst spielt den Vorarbeiter. Auf dieser Baustelle zumindest ist er bisher außerordentlich erfolgreich.