
Deflation ist der Endgegner der Zentralbank in einem friktionellen, kreditbasierten Geldsystem. In einer Welt, in der Geld durch die Kreation von Schulden per Knopfdruck entsteht, führt ein fallendes Preisniveau zu einer steigenden, realen Schuldenlast. Dies gilt für Staaten, Unternehmen und private Haushalte gleichermaßen. Investitionen geraten ins Stocken, die Kreditschöpfung versiegt, das System wird instabil. Ein steigendes Preisniveau ist das Spice der Fiatgeld-Systeme. Und es hält insolvente, systemtragende Schuldner wie den Staat liquide – eine teure Illusion, die den Vermögenstransfer vom produktiven Teil der Gesellschaft zum Staat am Leben hält.
Nun scheint ein kurzer Schattenwurf der Deflation die Notenbänker im Frankfurter EZB-Tower aufgeschreckt zu haben. Im Interview mit dem Turiner Blatt La Stampa warnte EZB-Ratsmitglied Mario Centeno vor fallenden Inflationsraten in der Eurozone. Was auf den ersten Blick als gute Nachricht für den Verbraucher erscheint, ist für die Notenbanker eine sich anbahnende Katastrophe. Im Mai war die Jahresinflationsrate in der Eurozone unter das EZB-Ziel von 2 Prozent auf 1,9 Prozent gerutscht, nachdem sie vor einem Jahr noch bei 2,6 Prozent lag. Politik und Notenbanker sollten mit der Frage konfrontiert werden, weshalb wir an einem Geldsystem mit einem integrierten Umverteilungsmotor festhalten.
Sinkende Inflationsraten sind im Falle der Eurozone Ausdruck der anhaltenden ökonomischen Schwäche der Gesamtwirtschaft, deren privater Sektor seit geraumer Zeit in der Rezession feststeckt. Nur massive Schuldenprogramme der Staaten halten die Illusion von Wachstum aufrecht. Centeno betonte im Interview, die Wirtschaft brauche weitere Impulse der EZB. Das Zinsniveau müsse mit einer Wirtschaft vereinbar sein, die eine stabile Inflation von zwei Prozent erzeuge. Und: Eine solche Wirtschaft existiere heute seiner Meinung nach im Euroraum nicht. Übersetzt heißt das: Kredite sollen billiger werden. Mit einer Geldflut will man die Krise der Eurozone überwinden.
In der Regel folgen Interviews mit Zentralbankern einem festgelegten Schema. Ist man aufgrund der selbst erzeugten Inflation gezwungen, die Geldpolitik zu straffen, wird die daraus folgende Rezession argumentativ geschickt zerstreut. Im folgenden Zinssenkungszyklus versucht man dann, die Geschäftsbanken davon zu überzeugen, wieder ins Risiko zu gehen und Kredite zu vergeben. Es ist der Moment, in dem sich die ganze Ohnmacht der Geldpolitik selbst entlarvt. Man kann die Pferde zwar zur Tränke führen, aber saufen müssen sie selber. Und in der Eurozone ist die Tränke randvoll, aber die Pferde stehen desorientiert und ausgemergelt daneben.
Es ist einer der entscheidenden Gründe, weshalb die Europäische Zentralbank auf die Umsetzung des digitalen Euros drängt. In Frankfurt weiß man, dass unter den in der Eurozone geltenden Regulierungen, der demografischen Entwicklung sowie der hohen Staatsverschuldung der Kreditmechanismus der Privatwirtschaft nicht mehr auf das alte Wachstumsgleis zurückfinden kann. Sowohl in den Reihen der EZB als auch bei der EU-Kommission in Brüssel hofft man darauf, dass die komplette Kontrolle der wichtigsten Stellschrauben des Kapitalmarktes helfen kann, die Wachstumsschwäche zu überwinden. Man hat nichts aus der Geschichte zentral geplanter Ökonomien gelernt.
Die Überwindung struktureller Fehleinschätzungen erfordert Charakterstärke. Im Falle der Geldpolitik in der Eurozone müssen wir konstatieren, was wir schon lange wissen: Der feste Glaube an ein längst gescheitertes geldpolitisches Regime hat die Reformkräfte niedergerungen. Dem bekannten Drehbuch treu folgend sollen nun also erneut geldpolitische Stimuli, sinkende Zinsen, massive Staatsnachfrage, die keynesianische Camouflage einer Scheinökonomie auf die Bühne bringen.
Centeno wies darauf hin, dass sich der Zinslockerungszyklus fortsetzen werde und man zudem die deflationären Auswirkungen der US-Handelspolitik spüre. Centeno weiß genau, wovon er redet, wenn er vor der Gefahr fallender Inflationsraten spricht. Er hat den Todfeind der EZB damit klar benannt: Es sind fallende Preise, eigentlich etwas Gutes für den Konsumenten und ein Zeichen einer wettbewerbsintensiven Wirtschaft.
Und er gab einen deutlichen Hinweis darauf, wer die Schuld am ökonomischen Desaster der Eurozone tragen wird. Selbstverständlich Donald Trump und seine Zollpolitik. Kein Wort von der selbst verschuldeten Euro-Misere, der mutwillig herbeigeführten Energiekrise und Überbürokratisierung. Wir dürfen gespannt sein, wie die Geldpolitik reagiert, wenn geldpolitische Brandbeschleuniger wie Künstliche Intelligenz oder Robotik den deflatorischen Druck auf das Geldsystem potenzieren.
Die Reaktion der Notenbank während der Corona-Lockdowns gewährt uns einen Blick in die Zukunft. Im Rahmen des Pandemie-Notfallankaufprogramms (PEPP) flutete die EZB ab März 2020 die Märkte mit Liquidität. Sie erwarb Staats- und Unternehmensanleihen im Volumen von bis zu 1.850 Milliarden Euro und hielt Banken mit ultra-günstiger Refinanzierung im Spiel. Die Folge war eine massive Ausweitung der Geldmenge, die den kleinsten Anflug marktwirtschaftlicher Selbstheilungskräfte erstickte. Und sie legte den Grundstein für die folgende Inflationswelle.
Nach dem Einbruch im Zuge der Lockdowns stieg die Inflation ab 2021 rasant an, getrieben von Geldmengenausweitung, Energiepreisschocks und staatlichen Eingriffen. Sie erreichte in der Eurozone Höchstwerte von über 10 Prozent. Seitdem fiel die Teuerungsrate sukzessive und sorgt nun in Frankfurt und den Hauptstädten der Eurozone für Sorgenfalten.
Was die jahrelange Nullzinspolitik ebenfalls bewirkt hat, war eine fortschreitende Zombifizierung der Ökonomie. Eine wachsende Zahl von Unternehmen und privaten Haushalten ließen sich auf Schulden ein, die sie im Falle steigender Zinsen nicht mehr refinanzieren können. Rekordhohe Insolvenzraten zeugen davon, dass der Markt den Prozess der Eliminierung dieser Elemente eingeleitet hat. Nicht selten handelt es sich dabei um die hochsubventionierten Lieblingskinder des Green Deal, der den Euro-Keynesianismus mit einer substanziellen Agenda unterlegen sollte.
Der schnelle Zinssenkungslauf der EZB, sie kommt jetzt auf 8 Senkungen in 12 Monaten, zeigt, dass man sich der Probleme der Eurozonenökonomie durchaus bewusst ist. Kalkuliert man den realen Zins, so befindet sich der Leitzins der EZB bereits wieder im negativen Bereich. Banken können in diesem Umfeld kein Geld verdienen. Aber immerhin schafft man den Haushaltspolitikern in der Eurozone wieder etwas Luft, in ihrem Versuch, sich vor fiskalischer Härte und Kürzungen der explodierenden Sozialbudgets aus der Affäre zu ziehen.
Wir zahlen einen hohen Preis dafür, dass die Geldpolitik quasi in staatlichen Händen liegt – und mit ihr das gefährlichste Machtinstrument unserer Zeit: die Kontrolle über den Preis des Geldes. Die wahre politische Macht in Europa sitzt nicht in Brüssel, sondern im EZB-Tower. Dort wird über Kreditkosten entschieden, über Kapitallenkung und Ressourcenverteilung – mit tiefgreifenden Konsequenzen für die private Kapitalbildung.
Die fundamentale Reform, die uns politisch aus der Irrlehre des Keynesianismus herausführen würde, wäre die Trennung von Staat und Geldsystem. Staatliche Akteure müssten sich so dem disziplinierenden Diktat des Kapitalmarktes unterwerfen. Es wäre das Ende unsinniger politischer Projekte wie dem Green Deal oder der versteckten Finanzierung von Kriegshandlungen und einem Sozialwesen, das ausschließlich dem Zweck dient, Wählerstimmen an sich zu binden. Die Manipulation des Geldwerts durch den Gelddrucker hat die Kausalität von Ausgabenverhalten und realen Kosten gesprengt. Es fällt der Politik zu leicht, ihr fiskalisches Fehlverhalten rhetorisch vom Wertverfall des Geldes zu lösen und Sündenböcke für den grassierenden Kaufkraftverlust vorzuschieben.
Da derartige radikale Reformen aber stets auf schwerste Krisen folgen, sind wir gut beraten, unsere Hoffnungen nicht allzu hoch zu schrauben. Die nächsten Etappen der sich anbahnenden Eurokrise werden die Umsetzung des Schuldenplans des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghi sein, der ein 800 Milliarden Euro schweres Programm zur Überwindung der Rezession fordert. In diesen Kontext fällt auch die von Bundeskanzler Friedrich Merz angekündigte Schuldenoffensive der Bundesrepublik. Kurz gesagt: Im Westen nichts Neues.