Selbstbespiegelung und Selbstbetrug: Der Kirchentag als Relevanzsimulation

vor 2 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Die Politprominenz hatte sich eingefunden auf dem Evangelischen Kirchentag: Altkanzlerin Merkel durfte sich – mal wieder – als alternativlose Stimme der Vernunft inszenieren. Knapp Noch-Kanzler Scholz bekam das vorerst letzte Mal eine große Bühne geboten, um Loriots Bundestagsrede in den Schatten zu stellen und mit vielen Worten exakt nichts zu sagen.

Wäre Selbstironie eine protestantische Tugend, hätte der Auftritt Bodo Ramelows für Erheiterung gesorgt. Ihn hatte man für die Bibelarbeit mit einer jungen Neugetauften platziert, der er in pastoral-väterlichem Ton das Evangelium und die Welt erklärte. Monolog statt Dialog, und das zum Thema „Mut zum Widerspruch“. Bilderbuchpatriarchat, und insofern eine Überraschung auf dem Evangelischen Kirchentag.

Nun ist ein prominentes „Line-Up“ eine sinnvolle Strategie, um Interesse zu wecken, Kern einer solchen Veranstaltung sind jedoch die Themen (es wäre naiv zu meinen, dass Gebet eine wichtige Rolle spielen sollte).

Und da hätte der evangelische Kirchentag durchaus auftrumpfen können. Denn hier sprach man im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt – zwar weniger über Gott und mehr über die Welt, aber eines wurde am reichhaltigen Programm deutlich: Hier ist keine Kirche, die sich aus der Welt zurückzieht oder jenseitsbetontem Eskapismus frönt. Man will sich „mutig – stark – beherzt“ einmischen, wie das Motto des Kirchentags besagt. Kaum ein Thema, das hier nicht in Form einer Bibelauslegung, eines Gesprächspodiums oder Workshops zur Sprache kam.

Allein, nicht nur das „was“, auch das „wie“ zählt. Und hier erfüllte der Kirchentag sämtliche Vorurteile, die man der EKD als parareligiöse Vorfeldorganisation der Grünen entgegenbringt.

Diskussionsrunden glichen einem Wettkampf um Stromlinienförmigkeit und Mainstreamkompatibilität, ergänzt durch die Disziplin Dressurreiten auf dem moralischen Ross. „Wir sind eine Dialogplattform und wollen Menschen miteinander ins Gespräch bringen“, hatte die Generalsekretärin des Kirchentages, Kristin Jahn, im Vorfeld verlauten lassen. Das ist grob irreführend: Kontroverse Themen gab es zwar reichlich, aber diskutiert jeweils von Menschen, deren Meinungen sich nicht oder kaum unterschieden.

Zwar durfte in der Diskussion zum Thema „Europa: Sicherer Hafen oder eiserne Festung?“ ein syrischer Flüchtling auftreten, der daran erinnerte, dass Kapazitäts- und Integrationsprobleme ernstgenommen werden müssten. Eine Stimme, die für den globalen Süden eintrat, fehlte jedoch: Niemand wies darauf hin, wie egoistisch es ist, armen Ländern auch noch ihre fähigsten Leute nehmen zu wollen, und dass dies nicht mit Nächstenliebe vereinbar ist.

Im „Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen“, dem Raum für Gespräche „über Antifeminismus, Sexarbeit, Intersektionalität, Gender Gap, Geschlechtervielfalt, Polyamorie und mehr“ fand unter anderem ein Podium zu „Sexarbeit zwischen Anerkennung und Kriminalisierung“ statt.

Auf der christlichen MEHR-Konferenz in Augsburg 2024 war die Präsenz von Initiativen auffällig, die sich gegen Menschenhandel einsetzen; engagierte Christen, die Zwangsprostituierten und Ausstiegswilligen Hilfe und Unterschlupf bieten. Solche Menschen suchte man hier vergeblich. Prostitution ist auch im Hinblick auf das christliche Verständnis von Menschenwürde und Sexualität hochproblematisch. Doch anstatt aus einer christlichen Position heraus Heuchelei offenzulegen, aber auch libertäre Weltanschauungen herauszufordern, übernahm der Kirchentag unkritisch die Verharmlosung und Normalisierung von Prostitution als „Sexarbeit“. Wer braucht eine Kirche, die sich allem unterwirft, was der Hedonismus unserer Zeit diktiert?

Die sich überdies den Vorgaben der Transgender- und LGBTQ-Rhetorik andient; die einfach ignoriert, dass sich auch der Religiosität unverdächtige Akteure, etwa linke Feministinnen, und zunehmend auch die Medizin und „die Wissenschaft“ gegen das aussprechen, was der Transgenderhype propagiert? Hier wäre also differenzierte Auseinandersetzung nicht nur aus christlicher Sicht geboten, sondern schon aus dem Anspruch heraus, Vielfalt abbilden zu wollen.

Aber nein: Der Kirchentag feiert „pride and diversity“, queere Veranstaltungen indoktrinieren in Formaten für Kinder schon die Kleinsten, und gut intersektional fragt man sich, wie man gemeinsam „gegen Rassismus, Anti-Queerness und Populismus“ kämpfen könne.

Da darf auch die Abtreibungsdebatte nicht fehlen: „Vom Lebensschutz und dem Recht auf sichere Abtreibung“, heißt es hier. Doch keine Sorge. Vertreter der Lebensrechtsbewegung, die maßgeblich von evangelischen Christen mitgetragen wird, finden hier keinen Platz. Die hatte man zuvor mit fadenscheinigen Argumenten von der Teilnahme ausgeschlossen: Das Angebot eines persönlichen Gesprächs mit der Bundesvorsitzenden der Aktion Lebensrecht für Alle, Cornelia Kaminski, hatte Stefanie Rentsch, die Programmleiterin des Kirchentags, ausgeschlagen.

Im Online-Gespräch kam dann der angebliche Stein des Anstoßes zur Sprache: Embryomodelle, die einen Embryo in der 10. Schwangerschaftswoche darstellen. Über 4000 davon habe man auf der Bildungsmesse didacta problemlos verteilt, so Kaminski gegenüber TE: „An Fachpersonal, wohlgemerkt, nahezu alles Lehrer, oft mit abgeschlossenem Biologiestudium.“ Obwohl sie angeboten habe, diese Modelle dann eben gar nicht erst mitzubringen, habe Rentsch mitgeteilt, dass es für eine Teilnahme nun zu spät sei – das Gespräch fand im November statt.

Kirchentagsteilnehmern kann man also weder die biologische Realität zumuten noch das Zusammentreffen mit Menschen, die diese Realität kennen: „Die Wahrheit ist für manche Menschen nicht zu ertragen.“, bringt Kaminski den Sachverhalt abschließend auf den Punkt.

Wer tatsächlich andere Perspektiven einbringen könnte, wird gecancelt. Neues, Spannendes, Herausforderndes: unerwünscht. Der Kirchentag in Deutschland will offenbar jedes Vorurteil gegenüber der Kirche bestätigen.

Das Klimaschutzforum wirbt derweil dafür, dass Menschen sich einer „Planetary Health Diet“ unterziehen, d.h. ihre Ernährung nicht an die eigenen Bedürfnisse, sondern die des Planeten anpassen sollen. Auch hier fehlt ein christlicher Zwischenruf, dass die Idee, der Mensch könne die Welt aus eigener Kraft retten, nicht nur Hybris darstellt, sondern auch dem theologischen Votum sämtlicher Reformatoren widerspricht. Die wendeten sich noch gegen Selbsterlösung und „Ermächtigung“ des Menschen.

„Ich hatte gehofft, dass wir um die philosophische Frage des freien Willens herumkommen“, sagt der junge Theologe in einem Podium über Lebenswege junger Menschen. Damit prägt er das eigentliche Motto des Kirchentags: Bloß nicht über das Wesentliche reden. Hier geht es um Selbstverstärkung in der Echokammer, Denken wird vermieden, nicht, dass man am Ende noch über Philosophie spricht, oder, um Himmels Willen, über Gott!

Von den acht „Resolutionen“, die auf dem Kirchentag angenommen wurden, sind nur zwei nicht politisch: Eine will die Pflege gestärkt sehen, eine befasst sich mit der Bedeutung von Musik. Letztere ist auch die einzige, in der immerhin einmal das Wort „Gott“ vorkommt. „Jesus“? „Christus“? Davon findet sich nichts in den Texten. Zum Glück, wäre doch die Instrumentalisierung Jesu für Anträge wie den gratismutigen Vorstoß „AfD-Verbot – jetzt!“, die von Seawatch eingebrachte Resolution „Gegen die Aushöhlung des Asylrechts“ oder „Den Staat Palästina anerkennen“ ein Hohn.

Selbst zu letzterem Thema, dem Nahostkonflikt, versuchte sich der Kirchentag in der Kunst, bloß kein Abweichlertum zu dulden. Die Autorin Eva Menasse bezeichnete sich als „Wortmensch“, und tatsächlich: Sie erwies sich als geschickte Manipulatorin. So wendete sie sich gegen das „Einrammen verbaler Pflöcke“, indem man etwas als „unverhandelbar“ bezeichne – ein Wort, das hierzulande gern mit Blick auf das Existenzrecht Israels gebraucht wird. Im nächsten Satz erklärte sie, die Menschen in Gaza würden „wie Kieselsteine zermalmt“, womit sie selbst wortgewaltig und wortgewalttätig „einrammte“ – in der berechtigten Hoffnung, dass die Zuhörer den Widerspruch nicht bemerken würden.

So pflegte auch sie die selektive Wahrnehmung, die die Veranstaltung prägte. Damit war der Evangelische Kirchentag vor allem eines: Frustrierend. Der Unwille, Menschen zu begegnen, die nicht die eigene Perspektive spiegeln, die Bereitschaft, sich selbst völlig unkritisch zu feiern. Der Mangel an religiöser Sprachfähigkeit, und schließlich die Lust an unermüdlichem Selbstbetrug. Eine Relevanzsimulation, die vom Niedergang der Evangelischen Kirche in Deutschland kaum ablenken kann.

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