
Es ist ein ungewöhnlicher Abend in der ukrainischen Hauptstadt: Tausende versammelten sich am Dienstag vor dem Präsidentenpalast, sangen die Nationalhymne und forderten lautstark den Rückzug eines Gesetzes, das für viele einen gefährlichen Rückschritt in der Demokratie bedeutet. Auf ihren selbstgemachten Plakaten stand: „Korruption liebt Stille“ und „Stoppt das Gesetz“.
Der Protest richtet sich gegen das frisch verabschiedete Gesetz Nr. 12414, das das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) sowie die Sonderstaatsanwaltschaft (SAPO) künftig dem Generalstaatsanwalt unterstellen soll – einer Position, die vom Präsidenten selbst bestimmt wird. Damit, so die Kritik, verliere die Ukraine zwei ihrer letzten unabhängigen Kontrollinstanzen im Kampf gegen Korruption.
Obwohl die Empörung groß ist, zeigte sich Präsident Selenskyj unbeirrt: Noch in der Nacht unterzeichnete er das Gesetz und verteidigte das in einer Videobotschaft. Er begründete den Schritt mit dem Ziel, die Antikorruptionsbehörden von angeblichem russischem Einfluss zu befreien. Kritik übte er zudem an der mangelnden Effizienz der Behörden, insbesondere bei Fällen, in denen mutmaßlich korrupte Ukrainer ins Ausland geflohen seien.
Es ist der erste große öffentliche Protest gegen die ukrainische Regierung seit Beginn des Krieges, und er kommt zu einer Zeit, in der das Land militärisch stark unter Druck steht. Die russischen Streitkräfte rücken an mehreren Frontabschnitten vor, während Drohnenangriffe die Zivilbevölkerung terrorisieren. Dennoch demonstrierten am Dienstag nicht nur Studierende, sondern auch Soldaten in Uniform in Kiew, Lwiw und Odessa.
Nicht nur in der Ukraine, auch in Brüssel schrillen die Alarmglocken. Transparency International warnt vor einer „gezielten Schwächung unabhängiger Institutionen“. Die EU-Kommission äußerte sich besorgt und wies darauf hin, dass finanzielle Hilfen an rechtsstaatliche Prinzipien geknüpft seien. EU-Kommissarin Marta Kos bezeichnete das neue Gesetz als „ernsten Rückschritt“ auf dem Weg zum angestrebten EU-Beitritt der Ukraine.
Zeitgleich sorgen aggressive Ermittlungen des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU gegen NABU-Mitarbeitende für Aufsehen: Mehr als 70 Hausdurchsuchungen wurden durchgeführt, teils ohne richterlichen Beschluss, kritisieren Beobachter. Ein Verdacht: Die Razzien könnten eine Reaktion auf laufende Ermittlungen gegen Oleksij Tschernyschow sein, einen engen Vertrauten Selenskyjs und früheren Minister. Die NGO „Anti-Corruption Action Center“ sieht darin einen Versuch, „kritische Ermittlungen gegen den innersten Machtzirkel des Präsidenten zu unterbinden“.
Der Ärger der Demonstrierenden richtet sich dabei seltener direkt gegen Präsident Selenskyj, wohl aber gegen dessen einflussreichen Bürochef Andrij Jermak.
Die Ukraine belegt im Korruptionsindex von Transparency International Platz 105 von 180 – das schlechteste Ergebnis in Europa nach Russland. Gleichzeitig gab es in den letzten Jahren unter internationalem Druck und mit westlicher Unterstützung auch Fortschritte. Doch der Krieg, so warnen viele Korruptionsermittler, erschwert transparente Arbeit, nicht zuletzt deshalb, weil viele Vorgänge aus Sicherheitsgründen geheim gehalten werden.
Ein prominentes Beispiel ist der Skandal um das Verteidigungsministerium Anfang 2023. Es ging um überteuerte Lebensmittelverträge für Soldaten in Höhe von 330 Millionen Euro. Ein Fall, der sogar den damaligen Verteidigungsminister Resnikow massiv belastet hat.