
„Sowohl die damalige Bundeskanzlerin als auch ich hielten die Öffnung der Grenzen damals für richtig. Und das gilt auch rückblickend noch – trotz aller Probleme, die durch diese schnelle und massenhafte Zuwanderung bei uns natürlich auch entstanden sind“, erklärte der ehemalige Vize-Bundeskanzler Sigmar Gabriel im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Dennoch hätte man es, anders als von Alt-Bundeskanzlerin Merkel vor 10 Jahren versprochen, nicht geschafft. „Rückblickend muss man sagen, das ist uns nicht ausreichend gelungen. Die schiere Zahl und die Geschwindigkeit, mit der die Menschen gekommen sind, haben Deutschland überfordert“, so Gabriel.
Die Entscheidung, Hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen, sei ohne Alternative gewesen. Denn „wer zwischen 7.000 und 10.000 Flüchtlingen pro Tag und an den Wochenenden damals hätte an der deutschen Grenze aufhalten wollen, hätte dies nur mit Waffengewalt tun können“. Doch dies wäre „wohl kaum ein verantwortbarer Umgang mit Menschen gewesen“, die „Tausende Kilometer hinter sich gebracht hatten, um dem mörderischen Krieg Assads gegen sein eigenes Volk zu entkommen“, rechtfertigte Gabriel die Entscheidung von 2015.
Auch den Verlauf der Entscheidungen schilderte der SPD-Politiker. Laut Gabriel, der zu diesem Zeitpunkt Wirtschaftsminister war, habe ihn Merkel angerufen und gefragt, ob Deutschland bereit sei, „eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aus Ungarn aufzunehmen“. Dabei waren die Menschen gemeint, „die am Budapester Bahnhof festsaßen und von den ungarischen Behörden unter sehr menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten wurden“.
Gerechnet habe man damals mit „Zahlen zwischen 7.500 und 15.000“. Da man laut Gabriel die CSU zu diesem Zeitpunkt nicht erreichen konnte, hätten Merkel und Gabriel „in Absprache mit dem damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier“ entschieden, „diese Zahl an Flüchtlingen in Deutschland aufzunehmen“.
Nach dieser Entscheidung wurde im Koalitionsausschuss heftig diskutiert, schilderte Gabriel. Auf Antrag der CSU sollte noch einmal festgelegt werden, „dass es sich um eine einmalige Aktion gehandelt habe“. In der Realität war es das nicht. Laut Gabriel hatte man damals „die Illusion, es handele sich nur um eine überschaubare Zahl von Flüchtlingen, während in Wahrheit schon weit mehr Menschen auf dem Weg waren.“
Die Lage der Flüchtlinge in Jordanien und der Türkei sei Gabriel zufolge „immer bedrückender geworden“. Da hätten sich die „Menschen auf den Weg gemacht, getreu dem Motto der Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Ihm sei klar gewesen, dass man „die Menschen, die wir an der österreichischen Grenze antreffen, reinlassen müssen“, schilderte er weiter. Denn man hätte die „Nachbarn Österreich nicht damit alleinlassen“ können. Damals habe es die „Vereinbarung einer fairen Verteilung“ gegeben.
„Ich war davon überzeugt, dass ein Land mit damals 82 Millionen Einwohnern mit Hunderttausenden, sogar mit einer Million Flüchtlingen umgehen kann“, erklärte er weiter. Er habe diese Idee immer verteidigt. Auch vor den „ersten rechtspopulistischen Hetzern“, die damals schon davor warnten, dass „Deutschland bei einem Verhältnis von einem Flüchtling zu acht Deutschen wirklich ,ins Rutschen‘ kommen würde“.
Woran man jedoch gescheitert sei, sei an dem Problem, so viele Menschen „in so kurzer Zeit in der Mitte der Gesellschaft zu integrieren“. Denn die „schiere Zahl und die Geschwindigkeit, mit der die Menschen gekommen sind, haben Deutschland überfordert“, erklärte er weiter. Hätte man dieselben Flüchtlingszahlen „über einen längeren Zeitraum verteilt erreicht“, wäre es „nicht so gewesen“, glaubt Gabriel.
Ebenso habe man die Deutschen vergessen, meint Gabriel. Denn wenn man so vielen Ausländern helfe, hätte man auch den eigenen Bürgern zeigen müssen, dass man sie nicht vergesse. Für die Schwächsten der Gesellschaft hätte man ein „großes soziales Solidarpaket schnüren müssen“. Er sei sich „sicher“, dass „ein solches Solidarprogramm für alle in Deutschland Lebenden viel von der üblen Propaganda und Verhetzung von Flüchtlingen durch die AfD hätte verhindern können“. Gabriel zufolge sei „Niemand vergessen“, der bessere „Schlachtruf“ als das so bekannte „Wir schaffen das“.