
Es ist ein Video, das in früheren Zeiten einen Rücktritt oder einen Untersuchungsausschuss nach sich gezogen hätte. Aber auch die Meinungsfreiheit stirbt zentimeterweise: Erst die Gewöhnung an die schleichende Zensur macht diese überhaupt möglich. Und darum kann die Grünen-Vorsitzende Franziska Brantner mitten im Wahlkampf ein Video voller Zensur-Fantasien veröffentlichen, ohne dass dies für sie oder ihre Partei politische Konsequenzen nach sich zieht.
Am Donnerstag veröffentlichte Brantner, eine enge Vertraute von Robert Habeck und in seinem Wirtschaftsministerium als Parlamentarische Staatssekretärin tätig, das knapp anderthalbminütige Video über „Desinformation“. Darin markiert sie mit verleumderischen Mitteln einzelne Bürger als Gefahr und legt die Linien und Ziele einer grünen Zensur im Wahlkampf fest.
Unterlegt mit dramatischer Musik, erklärt Brantner in dem Clip: „Wer kennt’s nicht? Wenn du eigentlich auf dem Weg ins Bett bist, aber dann noch nach deiner Traumwohnung suchst. Und plötzlich landest du bei Immobilien-Influencern wie Alexander Raue oder Kolja Barghoorn. Am Anfang geht’s ganz unspektakulär um dein perfektes Leben: Rolex, Villa, Krypto, Gold. Aber dann merkst du, dass die auch“ – hier hebt Brantner die Hände, um Anführungszeichen in die Luft zu zeichnen, und lässt ein spöttisches Lachen anklingen – „‚sachlich argumentierende‘ Medienschaffende sind.“
Wer von der Villa träumt, kann schnell bei Desinformation landen – laut Brantner.
Auch die Verlockungen der Rolex stellen demnach eine Gefahr dar.
Dann werden zwei Zitate des YouTubers Alexander Raue eingeblendet, in denen er von einer „Regenbogenpresse“ und einer „linksgrünversifften Brille“ spricht. Brantner darauf: „Viele Influencer mit unglaublicher Reichweite – und immer die maximale Katastrophe. Mehr Klicks heißt auch mehr Geld für YouTube, weil sie die Videos und deren Klicks monetarisieren. Die Konsequenz siehst du in der Community drunter. Uff, mir wird schlecht …“
Hier lässt Brantner Kommentare einblenden, die nicht von den genannten YouTubern selbst stammen. Darin wird etwa gefordert, Flüchtlinge und Politiker in „Gaskammern“ zu stecken oder sie „an die Wand“ zu stellen und ihnen „eine Kugel in den Kopf“ zu schießen.
Brantner erklärt, dass die YouTuber von diesem Geschäftsmodell profitierten, die Gesellschaft aber der Verlierer sei: „Weil unsere Gesellschaft vergiftet wird.“ Allein im ersten Quartal hätten YouTube 46 Millionen Meldungen zu „irreführenden Inhalten“ erreicht. Dann kommt Brantner auf russische Desinformationskampagnen im US-Wahlkampf zu sprechen: Mitarbeiter von Russia Today hätten Influencer angeworben. „Seien wir also nicht naiv. Sowas kann auch in Deutschland passieren.“
Brantners Video stellt in mehrfacher Hinsicht eine Bedrohung der freien Rede dar. Erstens nennt Brantner konkrete Personen, denen sie indirekt unterstellt, Desinformation zu verbreiten und dafür von Russland bezahlt zu werden. Für keinen der beiden Vorwürfe liefert sie Belege. Die einzigen Aussagen, an denen sie die vermeintliche Desinformation festmacht, lauten „Regenbogenpresse“ und „linksgrünversiffte Brille“ – vollkommen legitime Meinungsäußerungen also. Eine Parlamentarische Staatssekretärin wirft also unbescholtenen Bürgern öffentlich vor, die Gesellschaft zu „vergiften“, weil sie anderer Meinung sind als sie selbst.
Zweitens zieht Brantner Meldungen, die bei YouTube eingegangen seien, als Beleg für Desinformation heran. Tatsächlich aber belegen diese Meldungen rein gar nichts, denn nur, weil ein Beitrag gemeldet wird, bedeutet dies noch nicht, dass es sich um eine Desinformation handelt. Brantner ignoriert mit ihrer Argumentation die Unschuldsvermutung und heizt eine Verdachtskultur an.
Drittens macht Brantner die beiden YouTuber für die Kommentare verantwortlich, die unter ihren Videos gepostet werden. Die Kommentare seien eine „Konsequenz“ der Videos. Doch in einer Demokratie haftet keiner für die Meinungsäußerungen eines anderen.
Es handelt sich jedoch nicht einfach um unmoralische Versuche, den Gegner zu verunglimpfen. Vielmehr bilden Brantners Aussagen bloß den Hintergrund für eine politische Einflussnahme auf die anstehende Bundestagswahl. Auf X schrieb Brantner über ihr Video: „Mit Desinformation erreicht man (nicht nur) auf YouTube Millionen. Meinung und Fake verschwimmen, Algorithmen treiben es an. Erster guter Schritt: Die Bundesnetzagentur hat ‚REspect!‘ als ersten Trusted Flagger benannt.“
Auf LinkedIn erklärte Brantner zu dem Video: „Angetrieben von Algorithmen verschwimmen bei ihnen Meinung und falsche Tatsachen (…). Der erste Schritt in die richtige Richtung: Die Bundesnetzagentur hat daher ‚REspect!‘ als ersten ‚Trusted Flagger‘ in Deutschland benannt, um konsequenter gegen Hass und Fake News vorzugehen.“
Franziska Brantner auf LinkedIn.
Brantner verknüpft hier unliebsame Meinungen mit konkreten Maßnahmen, die gegen diese Meinungen ergriffen werden sollen. Dabei bezieht sie sich auf die sogenannten Trusted Flagger. Diese wurden im Rahmen des Digital Services Act der EU eingeführt, um digitale Plattformen stärker in Haftung zu nehmen für die Inhalte, die bei ihnen veröffentlicht werden. Die Bundesregierung, namentlich die zuständige Bundesnetzagentur unter Leitung des Grünen-Politikers Klaus Müller, interpretiert das System der Trusted Flagger jedoch als Mittel, um den öffentlichen Diskurs in die gewünschte Richtung zu lenken.
Aufgabe der Trusted Flagger ist es eigentlich, illegale Inhalte bei den Plattformen zu melden, die von diesen dann entfernt werden können. Der DSA richtet sich also gegen illegale Inhalte, nicht gegen legitime Meinungsäußerungen. Die Bundesnetzagentur hatte im Oktober extra eine Pressemitteilung, in der es um die Zulassung der Meldestelle „REspect“ zum Trusted Flagger ging, im Nachhinein geändert, um den Eindruck zu vermeiden, dass die Meldestelle auch gegen legale Äußerungen vorgehen könnte. Zunächst hatte es geheißen: „Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden.“ Später war von „illegalen Inhalten, illegalem Hass und illegalen Fake News“ die Rede.
Brantners Video verdeutlicht nun, dass es der Regierung bei der Einführung der Trusted Flagger eben nicht um rechtswidrige Inhalte, sondern um das gezielte Verwischen der Strafbarkeitsgrenze geht. So spricht sie von „Meinungen und falschen Tatsachen“, die „verschwimmen“ würden, nennt die Zulassung von „REspect“ zum Trusted Flagger als „ersten Schritt“, um dagegen vorzugehen. Die Trusted Flagger sollen also gegen „Meinungen“ vorgehen.
Besonders relevant wird Brantners Plan mit Blick auf die Bundestagswahl. Auf LinkedIn führt sie aus: „Doch auch wir sind jetzt gefragt – vor allem mit Blick auf den Wahlkampf – Desinformation keine Chance zu geben.“ Tatsächlich sieht der Leitfaden der Bundesnetzagentur für Trusted Flagger auch Aufgaben im Kontext von Wahlen vor. So werden darin „Negative Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen“ als „unzulässige Inhalte“ gelistet. Zu diesen zählt laut dem Leitfaden auch „Informationsmanipulation mit dem Ziel, die Integrität/den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen.“ Auch der DSA sieht vor, dass Plattformen Risiken ermitteln und mindern, aus denen sich „nachteilige Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte und auf Wahlprozesse“ ergeben könnten.
Robert Habeck tritt für die Grünen als Spitzenkandidat an.
Melden Mitglieder der Grünen oder grüne Aktivisten also Beiträge bei „REspect“, die sie als Desinformation wahrnehmen – hierunter fallen laut Brantners Worten auch unliebsame Meinungen –, dann ist die Meldestelle „REspect“ laut Leitfaden berechtigt, die gemeldeten Beiträge daraufhin zu überprüfen, ob die Beiträge „negative Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen“ haben könnten. Die Meldestelle wiederum leitet die Meldungen dann an die Plattformen weiter, kann dort für eine Entfernung plädieren. Der Gesetzestext des DSA nimmt die Plattformen in die Pflicht, „nachteilige Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte“ zu verhindern, und setzt damit einen Anreiz, die gemeldeten Beiträge rasch zu entfernen.
Die Grünen sind also im Wahlkampf auf eine Armee von Meldenden angewiesen, die eifrig legitime, aber von der grünen Doktrin abweichende Meinungen als Desinformation markieren. Brantner rief auf X indirekt dazu auf: „Jetzt liegt es auch an uns, Fake News im Wahlkampf zu stoppen.“ Auch in einem Newsletter, in dem die Grünen um Spenden warben, begründeten sie dies mit dem Kampf gegen Desinformation: „Deine Spende hilft dabei, Menschen zu erreichen und Inhalte zu setzen, denn sie hilft, Online-Content zu finanzieren und gegen Falschinformationen im Netz vorzugehen.“
Zudem hat die Partei eine sogenannte Netzfeuerwehr ins Leben gerufen. Auf der Seite heißt es: „Wir überlassen das Netz nicht den Trollen und dem Hass. (…) Wir melden Lügen, Hass und Hetze und gehen rechtlich gegen Kommentare und Beiträge vor, bei denen das möglich ist.“ Auch hier wird durch die Ausdrucksweise deutlich, dass die Menge der gemeldeten Beiträge nicht zwingend deckungsgleich ist mit der Menge der Beiträge, gegen die rechtlich vorgegangen werden soll. Der Satz kann also als Auftrag verstanden werde, Inhalte zu melden, selbst wenn kein erkennbarer Verstoß gegen Gesetze vorliegt. Denn weder „Lügen“ noch „Hass“ sind Straftatbestände.
Der Web-Auftritt der grünen Netzfeuerwehr.
„REspect“ lässt auf NIUS-Anfrage wissen, die Meldestelle leite „ausschließlich als strafrechtlich relevant eingeschätzte Meldungen an das BKA weiter. Teilt das BKA diese Einschätzung, richten wir eine Löschbitte an die jeweilige Plattform.“ Das Wirtschaftsministerium will sich nicht zu dem Video äußern, es handle sich nicht um einen Kanal des Ministeriums.
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