
Mitten im Krieg herrscht Uneinigkeit in Jerusalem: Lassen sich die letzten Geiseln in der Gewalt der Hamas noch retten – und wenn ja: wie? Premier Netanjahu will den Gazastreifen komplett besetzen, um die Hamas unter Druck zu setzen; Generalstabschef Eyal Zamir bevorzugt eine andere Strategie.
22 Monate nach dem Überfall der Hamas auf den Süden Israels hat die israelische Armee noch nicht alle operativen Ziele des Krieges erreicht. Erklärtes Vorhaben war die Zerschlagung und Entwaffnung der Hamas, um sie als Gefahr für den jüdischen Staat dauerhaft auszuschalten, einerseits – und die Befreiung der am 7. Oktober verschleppten 251 Geiseln andererseits.
Das Problem ist, dass beide Ziele schwer miteinander zu vereinbaren sind. Nachdem Ende November 2023 etwa 110 Geiseln im Tausch gegen 2000 inhaftierte palästinensische Terroristen freigelassen wurden, acht Geiseln befreit werden konnten und weitere 30 während des Waffenstillstands zwischen Januar und März freikamen, dazu 57 getötete Verschleppte (darunter drei durch „friendly fire“) übergeben wurden, befinden sich noch etwa 50 in den Händen der islamistischen Terroristen. Etwa 20 von ihnen sollen noch leben.
Unter dem Eindruck der entsetzlichen Bilder von Evyatar David und Rom Braslasvsky, die in der Geiselhaft bis auf die Knochen abgemagert sind, ist der Druck auf Premier Netanjahu gestiegen. Die Angehörigen der Geiseln werfen dem Regierungschef vor, nicht alles getan zu haben, um ihre Lieben nach Hause zu bringen. Allerdings war es die Hamas, die Verhandlungen über Waffenstillstand und Geiselfreilassung in den vergangenen Wochen platzen ließ, weil die Geiseln für sie eine „Lebensversicherung“ darstellen.
Demo in Tel Aviv: Angehörige der Geiseln bedrängen Netanjahu.
Netanjahu will nun angesichts der blockierten Verhandlungen den militärischen Druck auf die Hamas erhöhen. Für ein Einkreisen und eine langsame Erschöpfung der Hamas sei „keine Zeit mehr“. Netanjahu sagte, er sei nun noch entschlossener, die Geiseln zu befreien, die Hamas zu eliminieren und dafür zu sorgen, dass vom Gazastreifen nie wieder eine Gefahr für Israel ausgeht. Zwar sind drei Viertel des Küstenstreifens unter Kontrolle der israelischen Streitkräfte (IDF) und das Hamas-Regime ist schwer getroffen – etwa 20.000 Terroristen sollen getötet worden sein. Aber für die verbliebenen Geiseln läuft die Zeit ab.
Deshalb will der Premier am Donnerstag das Kabinett über die von seinen rechten Koalitionspartnern favorisierte vollständige Besetzung des Gazastreifens abstimmen lassen. Diese träumen sogar von einer Rückeroberung inklusive Wiederbesiedlung des 2005 von Israel komplett geräumten Gebiets – ein Grund für Kritiker Netanjahus, dessen politisches Überleben als wahren Grund hinter dem Vorhaben zu vermuten.
Sie fürchten, dass eine militärische Eskalation das Leben der Geiseln gefährden könnte, sprechen offen von einem „Todesurteil“ und einem „Kollateralschaden der Regierung“. Obwohl die meisten Israelis hinter dem Krieg gegen die Hamas stehen, hoffen auch sie auf die Rückkehr der letzten Geiseln. Die Befürchtung, dass sie von den Terroristen ermordet werden, sobald sich israelische Soldaten nähern, ist real. Die Regierung hingegen argumentiert: „Wenn wir jetzt nicht handeln, werden die Geiseln verhungern und Gaza unter der Kontrolle der Hamas bleiben.“
Generalstabschef Eyal Zamir sieht das anders, weswegen er von Netanjahus Sohn Yair in diversen Posts auf der Plattform X attackiert wurde. Dieser verdächtigte Zamir implizit, hinter einem Statement von Yossi Yehoshua, dem Militärkorrespondenten der Zeitung Yediot Acharonot, zu stecken, der den Plan zur Wiederbesetzung Gazas kritisiert hatte. Yair Netanjahu sprach von „Rebellion“ und einem „versuchten Militärputsch, wie man ihn aus einer Bananenrepublik in Mittelamerika in den 70er Jahren kennt“.
Am Dienstag kam es darüber bei einem dreistündigen Treffen des Sicherheitskabinetts – Netanjahus rechte Koalitionspartner waren nicht dabei – zum offenen Streit. Laut eines Reporters des Senders Kan forderte Zamir den Premier heraus: „Wie sieht das aus? Warum greifst du mich an? Warum sprichst du mitten im Krieg gegen mich?“ Netanjahu feuerte zurück: „Droh’ nicht in den Medien mit Kündigung. Ich kann nicht akzeptieren, dass du jedes Mal drohst, zu gehen, wenn wir deine Pläne nicht akzeptieren. Mein Sohn ist 33, er ist ein erwachsener Mann.“
Armeechef Eyal Zamir (Mitte) wehrt sich gegen Angriffe von Netanjahus Sohn Yair.
Verteidigungsminister Israel Katz, der Zamir für den Posten des Armeechefs vorgeschlagen hatte, stellte sich hinter Zamir: „Es ist sein Recht und seine Pflicht, seine Meinung zu äußern.“ Und auch Benny Gantz von der Blau-und-Weiß-Partei der Nationalen Einheit sprang dem Generalstabschef bei. Er verurteilte die Angriffe auf Zamir und schrieb: „Er ist Teil der politischen Führung, wie es schon immer war und auch weiterhin sein wird, aber er ist keine Marionette oder ein bloßer Abnicker.“
Zamir ist nicht der einzige hochrangige Militär, der Bedenken hinsichtlich der geplanten Militäroffensive hat. Generalmajor Israel Ziv etwa, ehemaliger Leiter der Operationsdirektion der IDF, äußerte sich frustriert. „Der Gazastreifen ist bereits besetzt“, sagte er. „Er wurde schon mehrfach besetzt. Wir haben jeden Ort inzwischen vier- oder fünfmal besetzt ... Wir haben nach einer Militäroperation die Voraussetzungen für einen Regierungswechsel dort geschaffen. Um den Sumpf trockenzulegen, nicht um Moskitos zu jagen. Ich habe noch nie von einer siegreichen Armee gehört, die jeden einzelnen Terroristen oder jede einzelne Waffe dort aufspürt.“
Israelischer Panzer im Gazastreifen
Er sieht genau zwei mögliche Szenarien: „Die erste Option ist die Palästinensische Autonomiebehörde, was die größte Niederlage für die Hamas wäre. Die zweite Option ist der ägyptische Plan für eine technokratische Regierung für die nächsten fünf Jahre. Die Ägypter sind bereit, bei deren Einrichtung und bei der Ausbildung von Polizeibeamten, die nicht der Hamas angehören, zu helfen.“
Die Krux bei der Sache: Eine vollständige Besetzung würde Israel zwangsläufig dazu zwingen, sensible Gebiete zu betreten, in denen wahrscheinlich Geiseln festgehalten werden, insbesondere in den zentralen Flüchtlingslagern und in Gaza-Stadt. Der Krieg ist ohnehin verlustreich und Vertreter der israelischen Streitkräfte sollen die Einkreisung dieser Gebiete und gezielte Razzien bevorzugen, weil eine vollständige Eroberung ihrer Meinung nach zu höheren Opferzahlen und einem erhöhten Risiko für die verbleibenden Geiseln führen würde – und darüber hinaus zur Notwendigkeit, über eine Million Zivilisten aus Gaza aus den neuen Kampfgebieten zu evakuieren.
Oppositionsführer Yair Lapid hat ähnliche Bedenken: „Die Richtung, in die das Kabinett und die Regierung steuern, wird dazu führen, dass alle Geiseln sterben – an Hunger, Schlägen und Folter – oder während IDF-Operationen getötet werden. Im Gegenzug werden wir über zwei Millionen Palästinenser regieren – ihre Strom- und Wasserkosten bezahlen, ihnen Schulen und Krankenhäuser bauen, und zwar mit dem Geld der israelischen Steuerzahler“, fuhr er fort. „Wer annektiert, muss auch bezahlen. Von diesem Moment an liegt alles in unserer Verantwortung.“
Dennoch scheint Netanjahu die Rückendeckung aus dem Weißen Haus nutzen zu wollen, um in Gaza Nägel mit Köpfen zu machen. Von Reportern zu „Bibis“ Plan, Gaza vielleicht dauerhaft zu besetzen, befragt, hatte US-Präsident Donald Trump geantwortet: „Das liegt ganz allein bei Israel.“
Dabei hatten 19 ehemalige hochrangige israelische Sicherheitsbeamte – darunter die Ex-Generalstabschefs Moshe Ya’alon und Dan Halutz sowie frühere Chefs von Mossad und Shin Bet (Auslands- bzw. Inlandsgeheimdienst) wie Ami Ajalon – noch vor wenigen Tagen in einem offenen Brief an Trump appelliert, die israelische Regierung in Richtung eines Waffenstillstands zu „steuern“: „Es ist unsere professionelle Einschätzung, dass Hamas keine strategische Bedrohung für Israel mehr darstellt“, heißt es in dem Schreiben. Die Armee habe ihre operativen Ziele längst erreicht. Die militärischen Strukturen der Hamas seien zerschlagen, doch die Befreiung der Geiseln könne nur durch Verhandlungen erreicht werden.
Ex-Shin-Bet-Chef Ami Ayalon meint, die wesentlichen Kriegsziele seien erreicht.
„Derzeit haben wir eine Regierung, die von messianischen Eiferern in eine gewisse irrationale Richtung gelenkt wird“, meinte etwa Ya’alon, offensichtlich auf die Rechtsausleger Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir anspielend. Der auch als Video publizierte Appell wurde Trump am Freitag zugestellt, noch bevor die Dschihadisten in Gaza die schockierenden Geisel-Videos veröffentlichten. Dennoch muss man den Initiatoren keine politischen Motive unterstellen; ausweislich ihrer Karriere können sie sämtlich auf Expertise verweisen und sind schon deshalb ernst zu nehmen.
Benjamin Netanjahu steckt also in der Zwickmühle. Angesichts der Unterstützung für Zamir dürfte es für ihn nicht einfach sein, den aufmüpfigen Generalstabschef loszuwerden. Galt er früher eher als Zauderer, der Kriege nach Möglichkeit vermied, findet er sich nun zwischen Hammer und Amboss wieder: einen Krieg fortzuführen, ja zu intensivieren, in dem bereits 459 junge Soldaten gefallen sind – und vielleicht noch 20 lebende Geiseln nach Hause zu bringen, für die das Schlimmste befürchtet wird, schließlich hat die Hamas offen damit gedroht, die Geiseln hinzurichten, wenn die Armee anrückt.
Zwar erklärte der Premierminister: „Wir befinden uns mitten in einem intensiven Krieg, in dem wir sehr große, historische Erfolge erzielt haben, weil wir nicht gespalten waren – weil wir zusammenstanden und gemeinsam gekämpft haben.“ Doch Israel ist eine offene Gesellschaft, in der man Streit um den richtigen Weg nicht vermeidet. Schon vor mehr als 40 Jahren musste sich der damalige Regierungschef Yitzchak Shamir vor laufender Kamera von einfachen Soldaten im Libanon-Krieg kritisieren lassen.
Was man als Deutscher und Europäer aus der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den Gaza-Krieg lernen kann: In Israel macht man sich selbst genügend Gedanken über die Folgen des eigenen Handelns. Und deutlich kompetenter, als es unsere „Experten“ tun. Belehrungen hat man dort nicht nötig.
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