Ist Keir Starmer der neue Enoch Powell Englands?

vor etwa 5 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

Wer in diesen Tagen die politische Szene in Großbritannien beobachtet, muss sich, wenn er eher zum linksliberalen oder linken Lager gehört, auf einen gewissen Schock einstellen Das bisherige britische Parteiensystem droht komplett zu implodieren. In den Umfragen eilt die von Farage geführte Reform-Partei von Rekord zu Rekord, und wäre beim heutigen Stand wohl die mit Abstand stärkste Partei, mit einem Stimmenanteil von bis zu 30 Prozent; Labour landet deutlich unter 25 Prozent, die Konservativen, die damit nach fast 350 Jahren ihrem Untergang ins Auge blicken, sogar unter 20 Prozent.

Sicher, das sind nur Umfragen, und bis zur nächsten Unterhauswahl werden noch mehrere Jahre vergehen. Bis dahin kann sich noch viel verändern, das stimmt. Aber bei den Kommunalwahlen, die vor kurzem in einer Reihe von englischen Grafschaften und Städten stattfanden, errang Reform in vielen Gebietskörperschaften einen überwältigenden Sieg. Die Konservativen wurden vernichtend geschlagen, aber auch Labour, das schon bei den vorherigen Kommunalwahlen 2021 recht schlecht abgeschnitten hatte, musste herbe Verluste verzeichnen. Im County Durham etwa verlor Labour jetzt 38 Sitze und ist nur noch mit 4 Councillors im County Council vertreten, während Reform 65 Sitze von insgesamt 98 gewann.

Farage, der Führer der Reformpartei, ist sicher das, was viele im Englischen als „rabble rouser“ bezeichnen würden. Persönliches Charisma, das vor allem Briten anspricht, die der unteren Mittelschicht angehören und mit Blick auf die Geschichte ihres Landes nostalgisch gestimmt sind, verbindet er mit einem erheblichen demagogischen Talent, daran kann kein Zweifel bestehen. Denn wie viele Führer von Protestparteien verspricht er sehr vieles, was, würde er je Premier werden, so kaum umzusetzen sein würde. Aber das scheint seinen Wählern, so enttäuscht sind sie von den etablierten Parteien, egal zu sein.

Die hohen Migrationszahlen sind wesentlich mit darauf zurückzuführen, dass die Konservativen, als sie noch regierten, die Einwanderung von Nicht-Europäern sehr erleichterten, wohl auch um negative wirtschaftliche Folgen des Brexit auszugleichen. Diese Politik hat aber dazu beigetragen, die Konservativen bei großen Teilen ihrer traditionellen Wählerschaft und den 2019 neu für die Tories gewonnenen ehemaligen Labour-Wählern im Norden dauerhaft zu diskreditieren, daran kann auch die neue Führerin der Partei, Kemi Badenoch, wenig ändern, zumal sie selbst vor der letzten Unterhauswahl Ministerin war, also ein Glaubwürdigkeitsdefizit hat.

Farage nutzt die Schwäche der Konservativen, die wie eine Partei wirken, die zwar in der Opposition konservative Floskeln runterbetet, in der Regierung aber nicht wagt, Maßnahmen zu ergreifen, die mit dem vorherrschenden Mitte-links-Konsensus unverträglich wären, geschickt aus. Und während er die Überfremdungsängste großer Teile der Bevölkerung, die sich namentlich im verarmten Norden des Landes mit massiven wirtschaftlichen und sozialen Nöten und dem Eindruck, einfach inkompetent und ineffizient regiert zu werden, verbinden, offen anspricht, ist es schwer, ihn als einen Rassisten darzustellen, auch wenn linke Publizisten und Politiker das natürlich regelmäßig und mit wachsendem Eifer tun. Und wenn es in seiner Partei Fanatiker gibt, und es gibt sie, gelingt es Farage meist, diese Leute in der dritten oder vierten Reihe zu verstecken, was hier in Deutschland bei der einschlägigen Protestpartei, die Reform in GB entspricht, eher selten gelingt.

Generalsekretär von Reform und einer der größten Geldgeber der Partei ist ein Mann, der sich selbst als „patriotischen britischen Moslem“ bezeichnet, Zia Yusuf, ein im Finanzsektor reich gewordener Sohn von Einwanderern aus Sri Lanka. Yusuf hat sich in Interviews unter anderem gegen jede Form positiver Diskriminierung zugunsten ethnischer Minderheiten, im öffentlichen Dienst oder bei großen Firmen gewandt. „Equality of outcome“ als Ziel ist für ihn mit meritokratischen Prinzipien unvereinbar, und da wird man ihm zustimmen müssen, so wie auch seine Kritik an den Defiziten der englischen Kommunalverwaltung in vielen Städten Hand und Fuß hat.

Die Stimmengewinne von Reform bei den jüngsten Kommunalwahlen gingen mit einigen wichtigen Ausnahmen eher auf Kosten der Konservativen und so wäre es wohl auch bei einer Unterhauswahl. Allerdings ist das für Labour kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen, denn die linke Partei hat schon vor Jahren im Zuge des Kampfes um den Brexit viele kulturell konservativ gesinnte Wähler aus der weißen Arbeiterschaft oder unteren Mittelschicht an die Konservativen verloren, was das in Stimmen (knapp 34 Prozent), wenn auch nicht in Sitzen schlechte Wahlergebnis bei der letzten Unterhauswahl mit erklärt.

Diese Wähler wandern jetzt gewissermaßen weiter zu Reform. Kann Labour sie nicht zumindest teilweise zurückgewinnen, wird die Lage prekär, da man gleichzeitig Stimmen an die Grünen und unabhängige muslimische Wahlvereine verliert, die vor allem Wähler anziehen, für die Labour die Interessen der Anhänger des strikten, antiwestlich ausgerichteten Islam noch nicht offensiv genug vertritt, etwa durch Einführung eines Blasphemie-Gesetzes. Aber auch die eher linksliberalen LibDems sind eine Konkurrenz für Labour.

In diesem Kontext verwies er auch darauf, dass man von Immigranten erwarten könne und müsse, dass sie nicht nur die englische Sprache lernten, sondern sich auch „integrierten“, was wohl doch als Hinweis darauf zu sehen ist, dass man von Fremden ein Minimum kultureller Assimilation erwarten könne. Eine solche Forderung ist in linken Kreisen natürlich die größte aller möglichen Ketzereien, und sofort wurde Starmer angeklagt, er wandele auf den Spuren des konservativen Politikers Enoch Powell (1912-1998), der in einer berühmt-berüchtigten Rede mit in der Tat rassistischen Untertönen 1968 davor gewarnt hatte, wenn man die Masseneinwanderung nicht stoppen könne, würden ethnische Konflikte das Land am Ende zerstören. Oder wie Powell es als Altphilologe mit einem Zitat aus der Aeneis melodramatisch formulierte: „As I look ahead, I am filled with foreboding; like the Roman, I seem to see ‚the River Tiber foaming with much blood.“

Manchen Kommentatoren, auch in Deutschland, etwa beim Spiegel oder beim ÖRR – man denke an die ideologisch hochmotivierte NDR-Korrespondentin in London, Annette Dittert – tritt bei solchen Assoziationen buchstäblich der Schaum vor den Mund, und sie werden wohl viele Jahre brauchen, bis sie angesichts dieser Provokation Starmers ihre Fassung zurückgewonnen haben. Man muss inniglich hoffen, dass sie jetzt die notwendige medizinische Unterstützung erhalten.

Nun ist natürlich mehr als fraglich, ob der frühere Menschenrechtsanwalt Starmer, der bislang noch nie wirklich Maßnahmen zur Begrenzung der Massenimmigration unterstützt hat, wirklich entschlossen ist, jetzt eine sehr viel striktere Migrationspolitik zu verfolgen, wie das mindestens die Hälfte der Wähler in Großbritannien (nach neuesten Umfragen etwa 52 Prozent) wünscht. Allerdings lehnen zum Teil dieselben Wähler, die eine Reduktion der Einwanderungszahlen wünschen, Beschränkungen für weite Bereiche des Arbeitsmarktes, in denen ein Mangel an Personal herrscht, wie im Gesundheitswesen ab. Ihre Haltung ist also widersprüchlich.

Überdies, selbst wenn Starmer es wollte, stellt sich die Frage, ob ein solcher Politikwechsel überhaupt nach den Weichenstellungen der letzten 30 Jahre, die alle in eine andere Richtung gingen und auf eine Open-borders-Politik hinausliefen, überhaupt noch umsetzbar ist. Sollte das nicht der Fall sein, wäre es natürlich ein Fehler gewesen, bei kulturell konservativen Wählern falsche Hoffnungen zu wecken. Das würde Labour noch mehr schwächen, da es linke Wähler verlieren würde, ohne im Reform-Milieu Wähler zurückzugewinnen.

Aber offenbar hatte Starmer angesichts des Aufstiegs von Reform den Eindruck, er könne die Probleme der Massenmigration nicht mehr komplett ignorieren. Von daher können Wahlen in einer Demokratie dann doch einmal eine politische Wirkung haben, obwohl man als Deutscher geneigt ist, daran zu zweifeln, da sich unser System gegen solche unerfreulichen Folgen des Eigensinns der Wähler recht erfolgreich immunisiert hat.

Dort, wo man sich nicht konsequent aus dem Weg gehen kann, kann das zu Spannungen und Konflikten im Alltag führen, von spezifischen Skandalen der Vergangenheit wie dem massenhaften, wohl auch rassistisch motivierten sexuellen Missbrauch von weißen Mädchen durch die sogenannten „grooming gangs“ einmal ganz abgesehen. Überdies lässt sich empirisch belegen, dass kulturell sehr heterogene, tribalisierte Gesellschaften low trust-Gesellschaften sind, in denen man am ehesten den Personen vertraut, die zur eigenen kulturellen oder religiösen Gemeinschaft gehören. Den öffentlichen Institutionen oder gar Fremden hingegen vertraut man dann sehr viel weniger.

Labour hat, ähnlich wie vorher schon viele Politiker des lange dominierenden liberalen Flügels der Tories, bislang versucht, all diese Probleme unter den Teppich zu kehren, und versucht das mit Blick auf die Aufarbeitung der Grooming-gang-Skandale der letzten rund 20 Jahre immer noch, zum Teil weil man befürchtet, die Stimmen von Wählern pakistanischer oder vergleichbarer Herkunft zu verlieren, aber sicher auch, weil es für die Aktivisten der Partei, die oft dem progressiven Bürgertum angehören, einfach unvorstellbar ist, offen über diese Fragen zu sprechen – jeder, der das versucht, riskiert sofort, als Rassist denunziert zu werden.

Würde der deutsche Verfassungsschutz Keir Starmer beobachten – leider besitzt er ja keine dafür zuständige Auslandsabteilung – könnte er freilich leicht in Verdacht geraten, versteckt einen, man wagt es kaum zu sagen, „ethnisch-kulturellen Volksbegriff“ zu vertreten. Am Ende würde er – natürlich erst nach Jahren der sorgfältigen Auswertung von Belegmaterial – vielleicht sogar als „rechtsextremistisch“ geächtet werden, wegen seiner Kritik an einer radikal multikulturellen Gesellschaft. Das will sich natürlich keiner von uns vorstellen, es wäre allzu schrecklich, wenn Starmer, der mit seinem großartigen Pokergesicht und seiner tonlosen Stimme immer vollendet die Rolle des Biedermanns spielt, ein so schreckliches Schicksal zuteilwerden würde.

Soweit sind wir natürlich noch nicht. Aber wenn Großbritannien eines zeigt, dann dieses: Dass man reale Probleme nicht auf Dauer mit den Mitteln der politischen Palliativmedizin so tabuisieren und stillstellen kann, dass keiner mehr den Schmerz fühlt, den sie verursachen. Irgendwann funktioniert das nicht mehr, zumindest, wenn das politische System die Möglichkeit für die Artikulation politischen Protests noch bietet, was in England eben der Fall ist. Diese Möglichkeit des Protestes dem Bürger und Wähler zu nehmen, eine Option, die in Deutschland ja im Prinzip durchaus besteht, und die SPD und Grüne, aber auch Teile der CDU gerne nutzen würden, könnte aber zu einem späteren Zeitpunkt zu noch größeren Konflikten führen, die man dann nicht mehr eindämmen oder kanalisieren kann.

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