
Indien hat kürzlich in einem Vergeltungsschlag mehrere Ziele in Pakistan angegriffen. Mit der ungewöhnlich raschen Reaktion schien Indien darum bemüht, im Abschreckungswettbewerb mit Pakistan die Oberhand zu bewahren. Damit hat sich die Lage zwischen den Atommächten zuletzt gefährlich zugespitzt. Ausgelöst wurde der neue Indien-Pakistan-Konflikt durch einen Terroranschlag am 22. April in dem indisch kontrollierten Teil der Unruheregion Kaschmir durch islamistische Milizen, die offenbar von Pakistan aus operieren.
Nach Angaben des indischen Verteidigungsministeriums griff das Militär in der Nacht zum Mittwoch neun Ziele in Pakistan und im pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs mit Raketen an. „Nur bekannte Terrorlager“ seien angegriffen worden, hieß es von indischer Seite. Pakistan, das von Indien der Förderung und Finanzierung von Terroristen beschuldigt wird, meldete dagegen den Tod von 26 Zivilisten. Pakistan behält sich das uneingeschränkte Recht vor, entschlossen auf diesen nicht provozierten Angriff Indiens zu reagieren, hieß es aus Pakistan nach den indischen Luftschlägen.
In Indien waren die Rufe nach Vergeltung vor den Luftschlägen vom Mittwoch auch deshalb so laut, weil der Terrorangriff von Pahalgam besonders grausam war. Für beide Seiten kam es darauf an, ihre jeweiligen Militäraktionen gegenüber der eigenen Bevölkerung als Sieg zu verkaufen.
Indien und Pakistan einigten sich nun nach tagelangen wechselseitigen Angriffen auf eine sofortige Waffenruhe. Das teilten der pakistanische Außenminister Ishaq Dar und US-Präsident Donald Trump am Samstag übereinstimmend mit.
International wird weiterhin eine neue Eskalation zwischen den beiden Atommächten befürchtet, die schon drei Kriege um Kaschmir gegeneinander geführt haben. Die indischen Luftschläge vom Mittwoch sind vergleichbar mit Militäraktionen von 2016 und 2019, mit denen Indien Vergeltung für Terrorangriffe auf indische Truppen in Kaschmir übte. Nach pakistanischen Gegenschlägen gelang es damals, die Lage zu deeskalieren.
In der aktuellen Situation erhöhen jedoch mehrere Faktoren die Gefahr einer weiteren Eskalation: Zum einen zeigen die USA im Gegensatz zu früheren Konflikten wenig Interesse, deeskalierend zu wirken. Denn das internationale Umfeld hat sich seit 2019 verändert. Seit dem Krieg in der Ukraine und dem zunehmenden Handelskonflikt zwischen den USA und China kann sich Indien als von allen Seiten umworbene Vormacht in der Region bestätigt sehen. Geopolitisch haben sich die USA und Indien mit Blick auf China in den letzten Jahren angenähert und sehen sich als politisch unverzichtbare Partner. Pakistan hingegen hat nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan zumindest für den Westen an strategischer Bedeutung verloren.
Heute bevorzugen die EU und die USA Indien gegenüber Pakistan, was zu Zeiten des Afghanistankrieges, als Pakistan ein wichtiger Verbündeter des Westens war, nicht der Fall war.
Zum anderen stehen Indien und Pakistan diesmal unter Druck, Stärke zu zeigen. Das pakistanische Militär hat in der Bevölkerung massiv an Ansehen verloren, seit der beliebteste Staatsmann des Landes, der frühere Ministerpräsident Imran Khan, 2023 verhaftet wurde. Militärchef Asim Munir könnte versucht sein, die Situation zu nutzen, um seine angeschlagene Autorität zu stärken. Seinem Vorgänger wurde dagegen nachgesagt, eine Annäherung an Indien anzustreben.
Hinzu kommt, wie schon 2019 griff Indien bei seinem jüngsten Vergeltungsschlag unbestrittenes pakistanisches Territorium sowie das von Pakistan gehaltene Kaschmir an. Mit dem Unterschied, dass diesmal vier Ziele in Punjab, der bevölkerungsreichsten und politisch wie wirtschaftlich wichtigsten Provinz Pakistans, angegriffen wurden. Das Ziel in der Stadt Muridke, 30 Kilometer von Lahore, der Hauptstadt des Punjab, entfernt, war nach indischen Angaben ein Trainingslager der Lashkar-e-Taiba, einer militanten islamistischen Gruppe mit engen Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst, die nach Angaben der indischen Behörden hinter dem jüngsten Terroranschlag in Kaschmir steckt. Indien hat aber damit eine neue rote Linie überschritten. Denn aus pakistanischer Sicht wiegen diese Angriffe im Innern des Landes besonders schwer.
In jüngster Zeit besteht zudem die Gefahr, dass sich der Konflikt zu einem Stellvertreterkonflikt entwickelt. Die Konfliktzonen in Kaschmir sind zum Schauplatz des Einsatzes ausländischer Waffen geworden. Ein pakistanisches Kampfflugzeug chinesischer Bauart soll am Mittwoch mindestens zwei indische Militärflugzeuge abgeschossen haben. Die Abschüsse wurden auch von zwei US-Beamten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bestätigt. Der Vorfall ist vor allem für Pekings moderne Kampfflugzeuge ein wichtiger Meilenstein.
Die Leistung eines führenden chinesischen Kampfflugzeugs gegen einen westlichen Rivalen wird in Washington aufmerksam verfolgt, um herauszufinden, wie Peking in einem Konflikt um Taiwan oder im weiteren indo-pazifischen Raum operieren könnte. Pakistan erklärte bereits am Donnerstag, chinesische Kampfflugzeuge seien als Reaktion auf indische Militärschläge eingesetzt worden und hätten Peking angesichts der eskalierenden Spannungen in der umstrittenen Region Kaschmir umfassend über seine Maßnahmen informiert.
Nun kursieren Berichte, wonach es sich bei mindestens einem der abgeschossenen indischen Jets um ein französisches Rafale-Kampfflugzeug gehandelt haben soll. Im Zuge des wieder aufgeflammten Konflikts zwischen Indien und Pakistan drohen die Rafale-Kampfflugzeuge nun zu einer Blamage für Frankreich zu werden. Eine chinesische Delegation in Pakistan soll nach einem Bericht des britischen Telegraph „erfreut“ auf den militärischen Erfolg reagiert haben. Das chinesische Außenministerium habe sich später jedoch zurückhaltend geäußert und erklärt, von Berichten über die Beteiligung eigener Jets nichts gewusst zu haben, so der Telegraph.
Sowohl die Rafale als auch der von Pakistan eingesetzte chinesische Jet J-10 gelten als Kampfflugzeuge der Generation 4.5 und gehören damit zur Spitzengruppe der Kampfflugzeuge. Neue Waffentechnologien verändern die Dynamik des Kaschmir-Konflikts. Indien hat seit dem letzten Minikrieg 2019 seine Rüstungsausgaben erhöht. Es hat Kampfflugzeuge aus Frankreich erworben und seine Drohnenkapazitäten ausgebaut. Pakistan wiederum hat neue Kampfflugzeuge und Raketen aus China erworben und importiert nun 81 Prozent seiner Waffen aus China – vor 15 Jahren waren es noch 38 Prozent.
Was auch immer der indische Premierminister Modi nun vorhat, um die Abschreckung im Konflikt mit Pakistan dauerhaft wiederherzustellen, er sollte langfristig denken. Für Indien, das als Führungsmacht in Südasien eine zunehmend geostrategische Rolle spielt, ist Pakistan ein Störfaktor.
Ein regionaler Krieg würde Indiens Pläne, vom Handelsstreit zwischen den USA und China zu profitieren, zunichte machen. Statt jetzt einen Krieg zu riskieren, wäre Indien besser beraten, seine Streitkräfte weiter zu modernisieren. Dies könnte nicht nur Pakistan abschrecken, sondern auch Indiens Interessen gegenüber China stärken. Langfristig ist Indiens eigentlicher regionaler Rivale nicht Islamabad, sondern Peking.