
Der Virologe Hendrik Streeck hat die Ausgrenzung und Diffamierung von Ungeimpften in der Corona-Pandemie kritisiert. In der Diskussion darüber wenden viele ein, dass es dafür ja wissenschaftliche Sachgründe gegeben habe. Sie können sich dabei auf Drosten berufen, der unter Verweis auf das RKI gegenüber T-Online sagte: „Wenn man auf die Wissenschaft schaut, dann war im Herbst 2021 bei der Übertragung des Virus in neun von zehn Fällen mindestens ein Ungeimpfter beteiligt.“
Was ist dran an solchen Behauptungen?
NIUS hat der Modellierungs-Studie aus dem Winter 2021, auf der Drostens Aussage beruht, auf den Zahn gefühlt. Sie will zu dem Ergebnis gekommen sein, dass Ungeimpfte die Haupttreiber der Pandemie waren. NIUS hat beim RKI die detaillierte Datengrundlage angefragt, die in der Studie verwendet wurde, und Datenanalyst Tom Lausen zu Rate gezogen. Im Ergebnis zeigt sich, dass mit unbelastbaren Daten gearbeitet wurde. Mit mathematisch unsicheren Faktoren lassen sich keine seriösen Aussagen treffen.
Hendrik Streeck wirft der Corona-Politik im Focus vor: „Wir, als Gesellschaft, sind mit Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, nicht gut umgegangen. Man hat sie zum Teil ausgegrenzt, diffamiert, diskreditiert. Man hat ihnen die Schuld an dieser Pandemie gegeben.“ Als historische Beispiele für den Mechanismus, die Schuld für Krankheiten bei Minderheiten zu suchen, nannte er die Pest, bei der Juden am Pranger standen, und HIV, bei der die Schuld bei den Homosexuellen gesucht wurde. Streecks Fazit zu den Schuldvorwürfen gegenüber Ungeimpften: „Das war einfach falsch“.
Der virologische Gegenspieler Streecks: Zurzeit behauptet Drosten, dass in der Corona-Zeit im Großen und Ganzen alles richtig gemacht wurde. Hier mit dem Journalisten Georg Mascolo auf einem Podium am 8. Oktober in Köln.
Dass die Ausgrenzung der Ungeimpften falsch war, sehen nicht alle so. Um sie zu relativieren, werden oft scheinbare Sachgründe angeführt. So wird öfters behauptet, dass Ungeimpfte ja einen größeren Anteil am Infektionsgeschehen gehabt haben sollen. Solche Behauptungen gehen auf Schlagzeilen zurück wie etwa der vom Stern am 1. Dezember 2021. Als Ergebnis seines Berichts über eine Modellierungs-Studie fasst der Stern zusammen: „An acht bis neun von zehn Infektionen ist den Berechnungen zufolge mindestens eine ungeimpfte Person beteiligt. Je effektiver der Impfschutz ist, desto weniger Ansteckungen werden durch geimpfte Personen verursacht.“ Die Studie trägt den Titel: „Die Pandemie wird durch fehlenden Impfschutz getrieben: Was ist zu tun?“
Autor der Studie ist der an der TU Dresden beschäftigte Physiker Dirk Brockmann, der am RKI das Projekt leitete: „Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten“. Brockmann nutzte in seiner Modellierungs-Rechnung eine Angabe des RKIs zur Impfeffektivität, die sich im wöchentlichen Corona-Lagebericht vom 11. November 2021 findet: Sie betrage 72 Prozent. In diese Impfeffektivität fließt ein, wie viel Geimpfte im Vergleich zu Ungeimpften an Covid erkrankten. Sie wurde aus den Corona-Meldedaten der Kalenderwochen 41 bis 44 berechnet. Für das Fazit der Studie ist diese Impfeffektivität von zentraler Bedeutung.
Das RKI weist in dem betreffenden Bericht allerdings selbst ausdrücklich darauf hin, dass „unterschiedliches Testverhalten bei Geimpften und Ungeimpften zu Verzerrungen“ führen kann, und warnt: „Die hier aufgeführten Werte müssen daher mit Vorsicht interpretiert werden und dienen vor allem der Einordnung der Impfdurchbrüche und einer ersten Abschätzung (!) der Impfeffektivität.“
Um Transparenz zu schaffen, fragte NIUS beim RKI die verwendeten Daten an, und bat um die Darstellung des Rechenwegs, sodass sich erschließt, wie der Wert 72 Prozent zustande kommt, den die Modellierungs-Studie folgenreich weiterverarbeitete. Sie ist der Mittelwert aus den jeweiligen Wochen. Das RKI wies NIUS gegenüber darauf hin, dass die Daten sich durch Nachmeldungen nachträglich immer noch verändert haben. Wie die Antwort zeigt, liegen sie trotzdem noch im Umkreis von 72 Prozent.
Wie die dritte Sparte „Covid-19 Fälle“ zeigt, umfassen die Summen Geimpfte und Ungeimpfte, ohne dass aus ihnen hervorgeht, wie hoch der Anteil bei ihnen jeweils ist. NIUS fragte Datenanalyst Tom Lausen, der als Sachverständiger in Corona-Ausschüssen tätig war. Er weist darauf hin, dass Ungeimpfte häufiger getestet wurden als Geimpfte. „Es ist landläufig bekannt, dass Ungeimpfte und Geimpfte unterschiedlich getestet wurden, das war von den Verordnungen vorgesehen. Um Vergleichbarkeit herzustellen, hätte man Ungeimpfte und Geimpfte gleich häufig testen müssen“, so Lausen.
Zur Erinnerung: In KW 41 bis 44 (17.10. bis 07.11.2021) galten bundesweit 2G und 3G, was bedeutet, dass für Geimpfte im Gegensatz zu Ungeimpften die Testpflichten häufig entfielen, Geimpfte also weniger getestet wurden.
Datenanalyst Tom Lausen
Lausen: „Beispielsweise wurde bei der Polizei als Hausanweisung für die Polizeibeamten verfügt, dass Ungeimpfte alle zwei Tage auf der Wache getestet werden mussten, während man geimpfte Polizisten teilweise nicht mal mehr kontrollierte. Dieses Beispiel fand millionenfach wegen der Verordnungen an den unterschiedlichsten Arbeitsplätzen statt und zeigt die Verzerrung der Infektionszahlen und schlussendlich auch die Verzerrung bei der Impfeffektivität.“
Kurz: Die Daten, mit denen die Impfeffektivität berechnet wurde, wurden unter chaotischen Testbedingungen erhoben. Um belastbare Aussagen zu treffen, hätte man nicht auf die Meldedaten zurückgreifen dürfen, sondern repräsentative Kohortenstudien durchführen müssen: So hätte man eine Gruppe Geimpfter mit einer Gruppe Ungeimpfter im Zeitraum (KW 41-44) vergleichen können.
Lausen weist zudem darauf hin, dass die Impfeffektivität anhand von Krankenhauspatienten hätte berechnet werden müssen, da symptomatische Corona-Fälle Erkältungen umfassen – und milde Erkrankungen können kein Gesundheitssystem überlasten. Zur Erinnerung: Die Massenimpfung wurde damit gerechtfertigt, das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Ohne sinnvolle Berechnungsgrundlage seien die Angaben „Augenwischerei“, kritisiert Lausen.
Gerade, wenn es um Minderheiten geht, ist höchste Vorsicht geboten, da negative Aussagen über Ungeimpfte zu Hass und Zwietracht führen können. In der Corona-Politik sind viele Freundschaften, sogar Ehen daran zerbrochen. Minderheitenschutz gehört nicht ohne Grund zu den Errungenschaften moderner Rechtsstaaten. Das allerdings sollte nicht für Ungeimpfte gelten: Brockmanns Studie schlug der Politik vor, Maßnahmen zu ergreifen: „Kontakte reduzieren, v.a. zwischen ungeimpften Personen“, lautete eine Empfehlung. Gemeint sind damit Grundrechtseinschränkungen, die nur Ungeimpfte betreffen. Vor dem Hintergrund, dass „54 Prozent [der Ungeimpften] sagen, sie wollen sich auf keinen Fall impfen lassen“, bereitet die Studie zudem die Diskussion über eine – monatelang ausgeschlossene – Impfpflicht vor: „Vor- und Nachteile einer Impfpflicht sollten diskutiert werden.“
In der Coronazeit wurden Ungeimpfte in der Öffentlichkeit diskriminiert.
Wie inzwischen auch Lauterbach eingestanden hat (NIUS berichtete), gab es keinen Fremdschutz bei der Impfung, der bei den Zulassungsstudien auch gar nicht getestet wurde, wie Pfizer vor dem EU-Parlament bestätigte. Es gibt demnach keinen Grund anzunehmen, dass Ungeimpfte überproportional zur Pandemie beigetragen hätten. Folglich gab es auch keine „Pandemie der Ungeimpften“ und schon gar keine „Tyrannei der Ungeimpften“, wie der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery dereinst in den Raum stellte.
Wer anderes behauptet, hätte den Nachweis anhand sauberer Kohortenstudien auf Basis systematisch erhobener Daten zu erbringen. Modellierungen, deren Ergebnisse immer nur Schätzungen sind, können sie nicht ersetzen – schon gar nicht, wenn große Verzerrungen bei der Daten-Ausgangslage zu erwarten sind. Um es auf die griffige Formel zu bringen, die Wissenschaftler nutzen, die unhaltbare Modellierungen kritisieren: Bullshit in – Bullshit out.
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