
An zahlreichen Orten kommt es im vergangenen Jahr zu „Ausländer raus“-Gesängen über der Melodie von Gigi D’Agostinos bekanntem Hit „L’Amour toujours“. Es kommt zu Ermittlungsverfahren, die regelmäßig eingestellt werden. Der berühmteste Fall spielt sich im Mai 2024 auf Sylt ab. Hier sind die Ermittlungen ebenfalls schon seit Wochen abgeschlossen, aber die Staatsanwaltschaft schweigt. Will man bis nach der Bundestagswahl warten, um eine Einstellung des Verfahrens zu verkünden?
Im Mai 2024 stand das Land Kopf: Im Edelclub „Pony“ in Kampen auf Sylt stimmten mehrere junge Menschen die „Gigi D’Agostino“-Hymne „L’Amour toujours“ an und sangen über die Melodie die Parole „Ausländer raus!“. Videoaufnahmen davon gingen durch die sozialen Netzwerke. Die Personen wurden an die Öffentlichkeit gezerrt, verloren mitunter ihre Jobs.
Bei der Staatsanwaltschaft Flensburg gingen zahlreiche Onlineanzeigen und das entsprechende Video ein. „Wir haben dann in den frühen Morgenstunden ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, wegen des Verdachts der Volksverhetzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“, verkündete Staatsanwalt Thorkild Petersen-Thrö am 24. Mai bei RTL aktuell. „Diese Parolen sind aus unserer Sicht strafbewehrt.“
Monatelang ermittelten die Sicherheitsbehörden gegen eine Frau und zwei Männer. NIUS fragte immer wieder nach einem Zwischenstand. Am 6. Dezember 2024 teilte der verantwortliche Staatsanwalt auf Anfrage mit: „Wir sind in den letzten Zügen, ich hoffe, über den Jahreswechsel eine offizielle Stellungnahme abgeben zu können.“ Doch wochenlang passierte nichts. Auf nochmalige Nachfrage im Februar wird klar: Die Ermittlungen im Fall Sylt sind schon seit Wochen abgeschlossen. Dennoch wird der Öffentlichkeit noch immer nichts mitgeteilt. Will man die Bundestagswahl abwarten, um dann zu erklären, dass es für keine Anklage reichte?
Party in Kampen auf Sylt
Staatsanwalt Petersen-Thro erklärte gegenüber NIUS am 9. Februar: „In dem Verfahren betreffend die Ereignisse im Pony sind die Ermittlungen abgeschlossen. In Abstimmung mit der Behörde des Generalstaatsanwalts ist eine abschließende Entscheidung in den kommenden Wochen zu erwarten. Vor einer Information der Presse werden nach Abschluss aber zunächst die Beschuldigten bzw. ihre Verteidigungen zu informieren sein. Ich muss Sie leider noch um Geduld bitten.“
Immer wieder kam es im vergangenen Jahr zu entsprechenden „Ausländer raus“-Gesängen – in Parks, im öffentlichen Nahverkehr, meist jedoch in Clubs und Diskotheken. Die Behörden reagierten panisch. Mitunter kam es zu Hausdurchsuchungen oder zur Beschlagnahmung von Telefonen. Am Ende stand jedoch fast immer fest: Die Staatsanwaltschaft muss die Ermittlungen einstellen.
Das bloße Rufen der Parole ist nicht strafbar, wie zahlreiche Beispielfälle zeigen:
Bergholz, Oktober 2023In einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern tritt das Phänomen am 14. Oktober 2023 erstmals auf: Junge Leute singen bei einem Erntefest die Zeilen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ über die Melodie von „L’Amour toujours“ des italienischen DJs Gigi D’Agostino. Ein Video des Vorfalls sorgt in Politik und Medien für Entsetzen. Seitdem verbreitet sich das „Meme“ in ganz Deutschland. Es gibt zahlreiche Nachahmerfälle.
Nach monatelangen Ermittlungen wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung gibt die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg Ende Juni bekannt: Das Verfahren gegen vier Beschuldigte, einer von ihnen ist der Sohn des Bürgermeisters von Pasewalk, wird „mangels hinreichenden Tatverdachts“ eingestellt. Die „Ausländer raus“-Rufe sind keine Straftat.
Neukalen, Februar 2024Anfang Februar kommt es in der Diskothek Neukalen in Mecklenburg-Vorpommern zu einem weiteren „Gigi D’Agostino-Fall“. Der Autor des Polizeiberichts berichtet ausführlich über die „sogenannte Abisinth-Party“ am 3. Februar: „Kurz nach Mitternacht spielte der DJ auf dem ‚Oldie Dancefloor‘ eine Playlist, die neben weiteren Titeln auch den Song ‚L’Amour toujours‘ von Gigi D’Agostino beinhaltete. Plötzlich ertönte zur Melodie die Textumwidmung ‚Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!‘ in Sprech- und Schreigesängen. Insgesamt fünf Personen stimmten die entsprechenden Textzeilen zu dem Lied an. Sie wurden durch Zeugen gefilmt. Daraufhin eingeleitete und umfangreiche Ermittlungen haben dazu geführt, dass fünf Tatverdächtige, darunter eine 21-jährige Greifswalderin sowie ein 17-Jähriger und ein 22-Jähriger aus Neukalen und Ferdinandshof eindeutig identifiziert werden konnten.“
Die Kriminalpolizei führt anschließend „aufgrund des Straftatbestandes der Volksverhetzung nach § 130 StGB“ Hausdurchsuchungen bei den Jugendlichen durch und beschlagnahmt ihre Mobiltelefone, um „Aufschluss über den Tatablauf und weitere Tatverdächtige“ zu erhalten.
Seltsam ist vor allem der letzte Absatz der Pressemitteilung, in der Nachahmer gewarnt werden: „Die Kriminalpolizei weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es sich in Fällen wie dem oben genannten nicht um ein Bagatelldelikt oder gar um einen Jugend-Streich handelt, sondern um eine Straftat nach § 130 StGB (Volksverhetzung).“ Zum einen ist es nicht die Angelegenheit der Kriminalpolizei eine Strafbarkeit festzustellen, sondern Sache des Gerichts. Zudem stellen derzeit zahlreiche Staatsanwaltschaften entsprechende Ermittlungen ein.
Die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg antwortet auf Nachfrage von NIUS: „Ob und in welchem Fall eine Handlung als Angriff auf die Menschenwürde gemäß § 130 Abs. 1 StGB zu beurteilen ist, bleibt stets eine Einzelfallentscheidung, die bestimmt wird durch die ermittelten Tatsachen und die sich anschließende rechtliche Bewertung. Daher können lediglich scheinbar gleiche Fälle zu unterschiedlichen Abschlussentscheidungen führen. Da die Ermittlungen im ‚Neukalener-Fall‘ jedoch noch nicht abgeschlossen sind, verbietet sich gegenwärtig ein unmittelbarer Vergleich.“ Auch am Dienstag hieß es von Seiten der Staatsanwaltschaft, dass die Ermittlungen „noch nicht abgeschlossen“ sind.
Der umgedichtete Song von Gigi D’Agostino sorgte für Entsetzen im Land.
Magdeburg, Mai 2024Am Magdeburger Dom fährt am Abend ein PKW vorbei, aus dem laute Musik dröhnt. Ein Zeuge vernimmt durch die „geöffnete Scheibe der Beifahrertür“, dass „unter anderem zu einem Lied von Gigi D’Agostino ‚Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!‘ gesungen wurde“. Pflichtbewusst ruft er die Polizei, die eine Fahndung einleitet. Im Breiten Weg halten sie den Wagen und die zwei Insassen an. „Der PKW sowie die beiden männlichen Insassen wurden daraufhin nach möglichen Tonträgern durchsucht, woraufhin die Mobiltelefone als mögliche Tatmittel beschlagnahmt wurden“, berichten die Magdeburger Beamten. „Gegen die beiden Fahrzeuginsassen, zwei Magdeburger im Alter von 22 und 27 Jahren, wurde zudem ein Ermittlungsverfahren zum Verdacht der Volksverhetzung eingeleitet.“
Cochem, Juni 2024Mitte Juni treffen sich acht junge osteuropäische Frauen an einem beliebten Aussichtspunkt im rheinland-pfälzischen Cochem. Sie sind alle im Alter zwischen Anfang 20 und Mitte 30, keine der Frauen hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Polizei berichtet: „Inspiriert von einem TikTok Video sangen die Damen lautstark den Liedtext ‚Deutschland den Deutschen – Ausländer raus‘. Die Gesänge wurden von Anwohnern wahrgenommen, die die Polizei informierten. Den Damen wurde das weitere Absingen des Textes untersagt und ihnen wurde ein Platzverweis erteilt.“
Den osteuropäischen Frauen, von denen nur eine gebrochen Deutsch gesprochen habe, drohe nun ein Verfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung, schreibt die Polizei. Fast alle Frauen stammen demnach aus der Ukraine, eine aus Bulgarien und eine aus Georgien. In allen Fällen würden sich die Vernehmungen schwierig gestalten, da stets ein Dolmetscher hinzugezogen werden müsse.
Auf Nachfrage von NIUS erklärt die Staatsanwaltschaft Koblenz am Dienstag: „Das Verfahren wurde am 8. August 2024 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden konnte, welche einzelnen Beschuldigten genau die Liedzeilen gesungen haben (sollen).“
Osterode, Juli 2024Der vorerst jüngste Fall geschieht in Niedersachsen, wo eine Kabinenparty eskaliert. Auf einem Sportplatz in Osterode (Kreis Göttingen) sollen mehrere männliche Personen am Samstag gegen 19:20 Uhr zu dem Lied „L’ Amour toujours“ von Gigi D’Agostino die Parole „Deutschland den Deutschen und Ausländer raus“ gesungen haben. Zeugen rufen die Polizei. Die Beamten treffen in der Umkleide zehn Männer im Alter zwischen 20 und 34 Jahren. Gegen jeden von ihnen wird ein Verfahren wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung eingeleitet. Doch das Ermittlungsverfahren wird am 21. August 2024 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt.