
Die EU wird den deutschen Haushalt tolerieren. Obwohl der Staat schon jetzt mehr Schulden gemacht hat, als es laut Stabilitätspakt zulässig ist. Und obwohl jetzt 850 Milliarden zusätzliche Euro an neuen Schulden dazu kommen. Das überrascht nicht. Deutschland ist mit Abstand der größte Netto-Einzahler der EU. Deswegen lässt die auch Vorgänge durchgehen, die gegen andere Länder – etwa Ungarn oder die Slowakei – unweigerlich zu Bestrafungen führen würden.
Doch nach zehn Wochen an der Regierung dämmert es dem Team um Kanzler Friedrich Merz (CDU): Geld allein reicht nicht. Selbst 850 Milliarden Euro an neuen Schulden reichen nicht. Die Regierung muss das Geld auf die Straße bringen. Buchstäblich. Doch das funktioniert nicht. Die staatliche Autobahn GmbH hat die laufenden Planungen gestoppt. Über 60 Projekte im Straßen- und Brückenbau liegen damit auf Eis. Zudem hat die staatliche GmbH einen Ausschreibungsstopp für dieses Jahr verhängt. Es liegt am Geld.
Das Geld ist da. Eigentlich. Ein Sofortprogramm von 1,3 Milliarden Euro sieht der Entwurf für den Haushalt vor. Doch dann ist das Geld eben auch nicht da. Das Finanzministerium des Sozialdemokraten Lars Klingbeil streitet mit dem Verkehrsministerium des Christdemokraten Patrick Schnieder um die Freigabe. Zwar verkündet die schwarz-rote Regierung in einem, dass sie bürokratische Hürden abbauen will – aber vorerst bleibt sie immer wieder an genau diesen Hürden hängen.
Nun ließe sich sagen: Im September beschließt der Bund den Haushalt, dann kann auch das Geld fließen und die Autobahnen gebaut werden. Doch ganz so einfach ist das nicht. Im Straßenbau gibt es wie in nahezu allen anderen Branchen einen Mangel an Fachkräften. Diese standen bereit. Genauso wie Maschinen oder Baumaterial. Dieses muss nach dem Investitionsstopp erstmal wieder aktiviert werden.
Die ebenfalls staatliche Deutsche Bahn hat ähnliche Probleme wie die Autobahn GmbH. In zwei Wochen beginnt die Generalsanierung der wichtigsten deutschen Strecke: Hamburg-Berlin. Sie wird für neun Monate voll gesperrt. Das ist die zweite Sperrung innerhalb von zwei Jahren. Trotzdem wird die Bahn am Ende das “Digitale Zugsicherungssystem” auf ihrer wichtigsten Strecke voraussichtlich nicht umgesetzt haben, obwohl das in der EU eigentlich Standard sein sollte. Zwei Sanierungen innerhalb von zwei Jahren – und trotzdem ist die Strecke danach technologisch rückständig.
Neben Geld, das der Bund der Bahn nicht rechtzeitig hat zukommen lassen, liegen die Probleme auch im personellen Bereich. Zum einen das legendäre Unvermögen der Bahn, gescheit planen zu können und zum anderen der Fachkräftemangel in der Branche. Den können 850 Milliarden Euro neuer Staatsschulden nicht beheben. Aber sie haben einen Effekt. Viele Aufträge schaffen eine hohe Nachfrage bei einem niedrigen Angebot – folglich steigen die Preise. Die Generalsanierung der Riedbahn kostete 1,5 Milliarden Euro. Die neuerliche Sanierung der Strecke Hamburg-Berlin kostet wohl 2 Milliarden Euro. Beides ein Vielfaches des ursprünglich erwarteten Preises. Und das, obwohl die Bahn für die Hauptstrecke auf das digitale Leitsystem verzichtet.
Anderes Beispiel. Der Rhein soll zwischen Mainz und Koblenz an mehreren Stellen um 20 Zentimeter vertieft werden, um die Schifffahrt zu beschleunigen. Das wäre unter anderem für die Chemie-Riesen Bayer und BASF ein wichtiger Faktor. Gestartet ist das Projekt 2019, fertig sollte es 2030 sein. Doch über Termine für die Fertigstellung spricht das Verkehrsministerium des Rheinland-Pfälzers Schnieder nicht mehr – nur darüber, dass es definitiv nicht 2030 oder früher passieren wird. Ein Grund sind die diversen Klagen, die drohen. Die Organisation BUND weist bei der Einschätzung ihrer Chancen etwa auf ein entsprechendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes hin.
Der Dachverband der Verkehrsunternehmen, VDV, hat die Struktur des “Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität” kritisiert, über das die schwarz-rote Regierung ihre Schulden organisiert. Dieser Etat sei immer noch an die laufende Haushaltsplanung gekoppelt. Verkehrsprojekte müssten aber “überjährig” finanziert werden. Der Bund solle also das Geld also so bereitstellen, dass es von Anfang an für das gesamte Projekt bereitsteht. Damit ließe sich Chaos wie auf der Bahnstrecke Berlin-Hamburg verhindern, die für mehrere Sanierungen nacheinander lahmgelegt wird und am Ende dennoch nicht fertig saniert ist, bloß weil das Geld tröpfchenweise eintrifft. Zudem solle der Bund nicht nur der Bahn Fördergeld auszahlen, sondern auch Unternehmen, die in privater Hand sind.
Friedrich Merz hat am Dienstagabend Vertreter der Wirtschaft eingeladen. Bei verschlossenen Türen. Am Montag soll es zum “Gipfel” kommen. Eines dieser Worte für Arbeitskreise, von denen es in Berlin unter Schwarz-Rot so viele gibt – Arbeitskreise selbst ebenso wie Worte dafür. Die privaten Investitionen sind in Deutschland in den vergangenen Jahren dramatisch zurückgegangen – Kapital im dreistelligen Milliardenbereich ist ins Ausland abgeflossen. Ein wesentlicher Grund, warum die deutsche Wirtschaft zwei Jahre in Folge geschrumpft ist – und ein drittes Schrumpfen im laufenden Jahr trotz 850 Milliarden Euro an neuen Staatsschulden möglich ist.
Der Kanzler will gute Laune verbreiten. Wenn die Stimmung erstmal besser wird – so sein Kalkül – kommen die Investoren zurück und die Wirtschaft boomt wieder. Damit knüpft Merz an den ehemaligen Kanzler und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) an, wonach Wirtschaft zu 50 Prozent Psychologie sei. Durchaus richtig. Doch die anderen 50 Prozent sind Straßen, Schienen und Wasserwege, sind bürokratische Abläufe, Rechtssicherheit, Gestaltungswillen, gut qualifiziertes Personal und staatlich finanzierte Verbände, die staatlich geplante Projekte wegklagen. Wenn Merz gegenüber den Wirtschaftsbossen die gute Laune mobilisieren will, dann muss er über all diese deutschen Defizite hinwegtäuschen. Oder noch besser: Sie abschaffen. Geld allein reicht nicht. Auch wenn der Staat 850 Milliarden Euro an neuen Schulden aufnimmt.