
Bislang ist Boris Pistorius eher Bademeister als Großadmiral, er muss das Beschaffungswesen jedoch vom Kopf auf die Füße stellen. Denkbar wären unkonventionelle Lösungen wie die Einrichtung eines mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten temporären „Admiralinspekteurs“, dessen Aufgabe in der raschen Herstellung maritimer Sicherheit läge – das Sondervermögen gibt es her. Scheitert die Bundesregierung an dieser Aufgabe, geht nicht nur sie baden. Es wird Zeit, dass es auch die Berliner Politik an die Küste zieht.
Was ist es, das uns im Sommer an die Küste zieht? Auch heuer verbringen Millionen Deutsche ihre Ferien am Meer, gelockt vom Versprechen des Horizonts, vom seligen Wechsel aus Sonnenbad und Abkühlung. Nur hier können wir den Rand der uns bekannten Welt über einem friedfertig liegenden Ozean bestaunen, suchen Ruhe, Weite, vielleicht auch etwas Ursprüngliches. Die Launen der Witterung bescheren uns auch ein schillerndes Nebeneinander von Wellen, Wind und Sonnenbrand; beinahe unvermeidbar zieht es unseren Blick in die Ferne, ohne, dass wir uns von dem Augenblick lösen müssen. Wir sind ein Land der Hügel, Felder, Berge und Täler, der Gewerbegebiete und Mittelstädte; die Küste ist unser Tor zu fremden neuen Welten. Alle wollen ans Meer.
Sommer am Strand von Kühlungsborn an der Ostseeküste
Wenn ein Kind nach einem Eis schreit, die Möwe das Fischbrötchen stibitzt und eine Fähre über das glitzernde Wasser kriecht, denken nur wenige an Unterwasser-Sonare oder Minenjagdboote. Niemand verschwendet einen Gedanken an Kommunikations- und Handelsrouten, Unterseekabel oder Rohstoffe. Doch der Ozean ist nicht nur ein Sehnsuchtsort, sondern längst wieder ein Raum der Macht. Wer genau hinsieht, erkennt: Die See ist nicht friedlich. Sie war es nie. Wer mit den nackten Füßen im Sand steht, blickt unbewusst auf eine Arena, die täglich an Bedeutung gewinnt. Ja, es wollen beinahe alle ans Meer – außer der Deutschen Marine.
Während sich brave Bundesbürger in ein Urlaubsparadies verabschieden, dümpeln in Eckernförde halbfertige U-Boote, wartet ein Marineschiff in Wilhelmshaven monatelang auf die Werft. Auch für die Geopolitik ist die kühle See unlängst eine Bühne für hitzige Aufführungen geworden. So entsendete US-Präsident Trump kürzlich zwei seiner nuklear bewaffneten U-Boote, um Eindruck auf den russischen Amtskollegen Putin zu machen; der Kreml wiederum entschied sich, seine traditionelle Marine-Parade Ende Juli aus Sicherheitsgründen lieber abzusagen.
Das amerikanische Atom-U-Boot USS Columbus ist zwar schon seit >30 Jahren in Betrieb. Doch mit Nukleartechnologie bleibt es bis heute vor allem der deutschen Marine überlegen.
Für Geostrategen und solche, die es werden wollen, stellen sich im Zusammenhang mit dem Ozean daher wenig erholsame Fragen. In vielerlei Hinsicht ist die offene See gleichermaßen das Rückgrat des deutschen Wohlstandes und dessen empfindlichste Verwundbarkeit. „Wie auf dem Meere, so gibt es auch in der Politik eine trügerische Windstille“, so hat es der Schriftsteller Honoré de Balzac einmal formuliert.
Ein wenig Vorwissen reicht bereits aus, um mit anderen Augen auf die unendlichen Wasser jenseits von Nord- und Ostsee zu blicken. Naheliegend ist, dass Deutschlands Häfen eine empfindliche Infrastruktur darstellen, wie es die Debatte um den Kauf von Hafenanteilen durch chinesische Firmen immer wieder zeigt, zuletzt in Hamburg. Hier laufen Containerschiffe ein und aus, die Rohstoffe und Waren in die Bundesrepublik bringen oder Güter mit dem Siegel „Made in Germany“ in aller Herren Länder transportieren. Über achtzig Prozent des grenzüberschreitenden Welthandels läuft über Seewege, Deutschland unterhält die siebtgrößte Handelsflotte der Welt. Anschläge auf Pipelines und die gewichtige Bedeutung großer LNG-Terminals unterstreichen die Bedeutung und Verwundbarkeit sicherer Seewege für die Energieversorgung, während die Unterseekabel für den transatlantischen Datenverkehr für Börse und Dienstleistungen so unverzichtbar wie Satelliten im Weltraum sind.
Für die NATO wiederum ist der Nordatlantik nicht nur namensgebend, sondern auch der Raum, über den Truppentransporte und Versorgung im Ernstfall stattfinden, in geringerem Umfang gilt das auch für die baltische See und die nordischen Alliierten. Die Gewässer der Welt sind auch für die Flugrouten der zahlreichen Luftwaffen von Bedeutung, während Meerengen und Kanäle zu den neuralgischen Punkten der Außen- und Sicherheitspolitik zählen. Die Straße von Taiwan oder der Suez- wie der Panamakanal geben prominente wie allgegenwärtige Beispiele für diesen Umstand, auch Piraterie am Horn von Afrika oder die Straße von Hormuz werden immer wieder als neuralgische Punkte des Weltgeschehens angeführt.
Zu guter Letzt sind es in Errichtung und Unterhalt teure Marinestützpunkte an entscheidenden Küsten, die über Krieg und Frieden entscheiden können, wie beispielsweise jene russischen auf der Krim oder in Syrien. Dass auch Flüchtlingsrouten über das Meer verlaufen oder dieser Raum durch Offshore-Windkraft, Tourismus und Ölkatastrophen von Interesse für die Sicherheit eines Landes sind, sei nur am Rande erwähnt.
Führt man sich die unbestreitbar immense und vielschichtige Bedeutung der Weltmeere gerade für die Bundesrepublik einmal vor Augen, wirkt es beinahe schockierend, wie nachrangig diese Dimension in der Verteidigungspolitik behandelt wird. Das Vaterland ist in den Augen seiner Bürger noch immer eine Insel der Seligen, doch sie liegt inmitten eines Ozeans der Versäumnisse. Dafür trägt die gesamte Politik die Verantwortung, federführend jedoch das Verteidigungsressort.
Der Deutschen Marine steht das Wasser bis zum Hals. Ungeachtet des Pflichtbewusstseins und der Leistungsbereitschaft ihrer Soldaten ringt sie mit einem erdrückenden Personalproblem, wohl auch deshalb, weil der Dienst zur See mit den Ansprüchen an ein modernes Arbeitsleben mit dem Ziele maximaler Selbstverwirklichung nicht besonders vereinbar ist, zumal das Salär und die Identifikation mit der Heimat durchaus höher ausfallen könnten. So ist die derzeitige Seestreitmacht die kleinste, die Deutschland je hatte.
Die derzeitige Seestreitmacht ist die kleinste, die Deutschland je hatte. Hier: die Fregatte Bayern (F 217) im Marinestützpunkt Wilhelmshaven.
Das schlägt sich auch in der Anzahl und Schlagkraft der Einheiten nieder. Richtig ist zwar, dass die Marine schon aus technischen Gründen eine herausragend komplexe und kostspielige Beschaffung zu meistern hat, denn Boote und Schiffe gibt es naturgemäß nicht beim Discounter. Jedoch dient die Schwierigkeit dem Ministerium hier nicht als Herausforderung. Vielmehr schlagen die apokalyptischen Reiter des bundesdeutschen Militärs – absurder Bürokratismus, aplastische Strategie, Wahlkreis-Ökonomie und chronisch klamme Kassen – hier besonders kräftig zu Buche. Da die Rüstungsplanung den weltpolitischen Entwicklungen finster entschlossen hinterherhinkt, anstatt legislaturübergreifende nationale Interessen in den Blick zu nehmen, kommt es immer wieder zu Verzögerungen und sogar dem Abbruch laufender Projekte.
Das „Zielbild Marine 2035“ war ein erster ernstzunehmender Versuch, diesen Kreiskauf zu durchbrechen, doch auch dessen Umsetzung läuft schleppend. Personal- und Munitionsmangel sowie peinlich lange Werftzeiten ziehen mitunter sogar den Abzug von Einheiten nach sich, die in EU- oder NATO-Verpflichtungen fest eingeplant waren. Die Fregatte „Hessen“ musste ihren Einsatz im Roten Meer abbrechen, da ihre Munition für den 76-mm-Kanonenbetrieb nicht ersetzt werden konnte. Für den NATO-Einsatz in der Ägäis im Rahmen der Standing NATO Maritime Group 2 wiederum musste das zivile Forschungsschiff „Planet“ einspringen. Statt wie üblich ein Marine-Schiff als deutsche Plattform bereitzustellen, wurde die „Planet“ entsandt, als erste zivile Einheit überhaupt, die offiziell als Führungsplattform eines NATO-Verbandes fungierte.
Dem gegenüber stehen maritime Mächte, deren Streitkräfte mit allen Wassern gewaschen sind. Trotz zahlreicher eigener Probleme unterhält das Vereinigte Königreich nach wie vor eine seegestützte Nuklearwaffe, die die strategische Zweitschlagkapazität als britische Lebensversicherung garantiert. Das ist auch im Zeitalter der Interkontinentalraketen und unbemannten Systemen eine unersetzliche, beinahe mysteriös anmutende böse Überraschung für jeden denkbaren Kontrahenten, welche auch diplomatische Seriosität mit sich bringt.
Die Flugzeugträgerverbände der USA sowie deren Atom-U-Boote geben Washington die Möglichkeit einer allfälligen „Show of Force“, ein Umstand, von dem Europäer nur träumen können.
Während Peking seine Marine in großem Stil aufrüstet – Landungsfahrzeuge und eine schlagkräftige Navy sind der Schlüssel in der strategischen Auseinandersetzung um die Insel Taiwan sowie Handelsrouten im Pazifik – ereignen sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges regelrechte Durchbrüche in der maritimen Rüstung und der Marinedoktrin. Die unerwartete ukrainische Schlagkraft gegen die russische Schwarzmeerflotte zählt zu den frühesten und historisch denkwürdigsten militärischen Erfolgen Kiews, inzwischen ist die Ukraine führend bei der Entwicklung von Marine-Drohnen. Erst vor wenigen Tagen wurde ein modernes USV, das gewasserte Äquivalent zum UAV in der Luftfahrt, vorgestellt.
Russland wiederum investiert seit Jahren konsequent und von seiner derzeitigen Kriegsführung scheinbar unbeeinträchtigt in den Auf- und Ausbau sowie die Modernisierung seiner Eisbrecher und Unterseeboote.
Noch ist Boris Pistorius der beliebteste Politiker Deutschlands, doch seine Popularität dürfte auf einer Art Kontrasterfahrung beruhen. Im Vergleich zu seinen Vorgängerinnen und Vorgängern macht er eine gute Figur, im Rückblick wird er sich allerdings ebenso an realen Entwicklungen messen lassen müssen. Dass der Minister mit seinem Auftreten die Bedeutung der Bundeswehr im Allgemeinen gestärkt hat, ist ein Verdienst.
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat zu Land, zu Wasser und in der Luft große Baustellen. Inbesondere bei der Marine ist jedoch akuter Handlungsbedarf.
Und doch muss er als Oberbefehlshaber und Verantwortlicher die Nachrüstung – mit den bei kommenden Generationen geliehenen unzähligen Milliarden – zügig in stählerne Strategiefähigkeit verwandeln. Der Marine kann dabei gar nicht genügend Priorität zugemessen werden, auf straffe Führungsstrukturen und beschleunigte Beschaffung kommt es jetzt an.
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