
Das Sicherheitskabinett beschloss am Donnerstag zunächst die schrittweise Besetzung von Gaza-Stadt. Damit setzt sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sogar gegen Teile des eigenen Militärs durch – seine anhaltend offensive Strategie nach bald zwei Jahren Krieg gegen die Terrororganisation Hamas wäre allerdings ohne die Rückendeckung durch US-Präsident Trump kaum vorstellbar.
Die geplante Eskalation könnte der Hamas, die trotz enormer Verluste noch immer kampffähig ist und über funktionierende Strukturen verfügt, endgültig den Garaus machen. Allerdings birgt eine neue Offensive erhebliche Risiken. Die Zahl der Opfer wird erneut emporschnellen. Der Aufschrei weltweit wird enorm sein. Für die etwa 20 israelischen Geiseln könnte es im schlimmsten Fall sogar das Todesurteil sein. Der Widerstand gegen Netanjahu im eigenen Land droht dann noch heftiger zu werden.
Die Entscheidung, mit Gaza-Stadt das größte der drei im schmalen Landstreifen noch nicht von den Israelis kontrollierten Gebiete Schritt für Schritt ganz einzunehmen und erst einmal zu besetzen, wären kaum vorstellbar ohne die „Carte Blanche“ Trumps an den israelischen Regierungschef. Beide Politiker verbindet, abgesehen von dem weltweit großen Hass auf sie, die Überzeugung, dass es im Nahen Osten, insbesondere aber gegenüber islamistischen Terrororganisationen wie der Hamas, keine Alternative zu einer radikalen Politik der Stärke geben kann – in die Militärstrategie Jerusalems mischt sich der US-Präsident offensichtlich nicht ein, auch wenn er vergangene Woche Israel gemahnt hatte, die humanitäre Krise in den Griff zu bekommen.
Netanjahu und Trump eint in vielen Aspekten die Sicht auf die internationale Lage, beispielsweise was Iran oder Europa angeht. Beide finden die Bemühungen europäischer Politiker, einen nicht existierenden Palästinenserstaat „anzuerkennen“ und das Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte mit den arabischen und islamistischen Extremisten einfach nur lächerlich und hochgradig weltfremd.
Während also auf UN-Konferenzen und in Europas Hauptstädten mehr akademisch über „dauerhafte Friedenslösungen“ debattiert wird, ist Israels Regierung dabei, auf dem komplizierten Schlachtfeld dieses asymmetrischen Krieges Tatsachen zu schaffen. Allerdings gibt es weiterhin heftige Auseinandersetzungen in Jerusalem über Strategie und Zukunftsplanung. Am Donnerstagabend hatte Netanjahu noch in einem Interview des US-TV-Senders Fox News deutlich gemacht, dass Israel anstrebt, den gesamten Gazastreifen vorübergehend unter Kontrolle zu bringen.
Später beschloss das Sicherheitskabinett, den Krieg gegen die Hamas weiter zu verschärfen. Der Krieg soll nicht beendet werden, bevor nicht das gesamte Palästinensergebiet im Süden Israels kontrolliert und entmilitarisiert sowie die Hamas entwaffnet ist. Erst dann soll eine Zivilregierung aufgebaut werden.
Israel wolle sich den Gazastreifen nicht aneignen, betonte Netanjahu. „Wir wollen eine Sicherheitszone haben.“ Nach einer Übergangszeit soll die Kontrolle an arabische Kräfte übergeben werden, „die das Land ordentlich regieren, ohne uns zu bedrohen, und den Menschen in Gaza ein gutes Leben ermöglichen“.
Die Entscheidungen vom Donnerstagabend bedeuten, dass der Krieg im Gazastreifen noch mindestens bis 2026 andauern wird. Netanjahu zieht damit die Konsequenzen aus den gescheiterten Verhandlungen mit der Hamas über eine neue Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln. „Ich verstehe genau, was die Hamas will. Sie will keinen Deal“, hatte Netanjahu zuletzt in einer Video-Botschaft erklärt.
Die neuen Pläne Jerusalems beenden allerdings kaum die heftigen innenpolitischen Debatten über die Zukunft des Gazastreifens. Wie hoch die Emotionen zu diesem Thema hochkochen, zeigte ein Kommentar von Netanjahus Sohn Yair, einem Podcaster und „politischen Aktivisten“ auf der Nachrichtenplattform X; der 34-Jährige hatte Israels Generalstabschef Eyal Zamir (59) attackiert, dessen „kriminelle“ Haltung zu den Gaza-Plänen der Regierung „einer Rebellion und einem versuchten Militärputsch… wie in einer Bananenrepublik“ gleiche.
Zamir hatte sich der „Jerusalem Post“ zufolge – vor allem aus Sorge um die Geiseln – gegen eine Besetzung des gesamten Landstreifens ausgesprochen. Die Besetzung der letzten nicht kontrollierten Gebiete mit zahlreichen noch unentdeckten Tunneln und versteckten Bunkern könne zu einer „Falle“ für die israelische Armee werden. Benjamin Netanjahu verteidigte später seinen Sohn und kritisierte die Medienauftritte des Generalleutnants und seine öffentlichen Rücktrittsdrohungen. Allerdings ist die Zahl prominenter Ex-Militärs, von Intellektuellen und Demonstranten, die eine Kurskorrektur und ein Nachgeben Netanjahus fordern, um das Leben der Geiseln zu retten, in Israel weiter gewachsen.
Im Sicherheitskabinett in Jerusalem sollte noch diese Woche eine Entscheidung über die vollständige Besetzung des Gazastreifens gefällt werden. Die schrittweise Umsetzung des Plans soll der Online-Zeitung „Times of Israel“ zufolge etwa fünf Monate dauern und sich auf Gaza-Stadt und das Zentrum des Gazastreifens konzentrieren. Vorgesehen sei auch, in Zusammenarbeit mit den Amerikanern die Zentren für Hilfslieferungen – von derzeit vier auf 16 – auszubauen.
Die Bewohner von Gaza-Stadt sollen dem Bericht des israelischen TV-Senders Channel 12 News zufolge zur Evakuierung aufgefordert werden, um Zeit für den Aufbau der zivilen Infrastruktur – darunter Krankenhäuser und Versorgungs-Einrichtungen – im Zentrum der Stadt zu haben. Etwa eine Million Palästinenser sollen nach Süden in Richtung der Zelt-Flüchtlingslager Mawasi gehen.
Erst in einer zweiten Phase würde dann die israelische Militäroffensive beginnen. US-Präsident Trump werde dann in einer Grundsatzrede über die Zukunft des Gazastreifens und die Hilfe für die Bewohner sprechen, so der Fernsehsender.
Generalstabschef Zamir hatte sich laut israelischen Medien für einen alternativen Besatzungsplan eingesetzt. Statt einer kompletten Besetzung sollten nur Gaza-Stadt und andere Orte schrittweise eingekesselt werden. Derzeit kontrolliert die israelische Armee laut eigenen Angaben rund 75 Prozent des Gazastreifens.
Unklar ist, ob die Rechtsaußen in der Regierung, Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich, ihre Forderung nach einer jüdischen Wiederbesiedlung des Gazastreifens nun tatsächlich aufgeben werden. Bis zum völligen Abzug Israels aus dem Gebiet 2005 hatten dort mehr als 8500 Israelis in 21 Siedlungen mit blühenden Obstplantagen, Gewächshäusern, Landwirtschaftsbetrieben, Entsalzungsanlagen und kleinen Fabriken gelebt. Es dauerte nach dem Weggang der Siedler nicht lange, bis Islamisten nicht nur Wohnhäuser und Synagogen, sondern auch die Wirtschaftsbetriebe zerstörten.
Die weitere Eskalation im Gaza-Krieg wird ziemlich sicher erneut heftige Proteste der arabisch-islamischen Welt, der Brics-Staaten wie China, Russland und Indien, der meisten Staaten Europas und der Vereinten Nationen provozieren.
Auch die allermeisten Medien und die Öffentlichkeit im freien Westen werden empört sein, vor einer „neuen Spirale der Gewalt“ warnen und Israels Politik scharf verurteilen. Aber das ist Israel seit dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 mit über 1200 Toten und 221 Geiseln nun wirklich gewohnt.
UN-Botschafterin Miriam Novak erinnerte bei der Sondersitzung der UN-Generalversammlung in New York vergangene Woche an die Jahrtausende währende Leidensgeschichte der Juden, an den Holocaust und an den Überlebenskampf des modernen jüdischen Staates seit 1948.
„Und heute – da Juden in euren Ländern wieder geplündert, geschlagen und getötet werden, und eure Gerichte die Täter freilassen – sagt ihr uns, wir hätten kein Recht, uns zu verteidigen?“ wetterte Novak gegen die schweigenden Repräsentanten der Weltgemeinschaft in der Vollversammlung.
„Glaubt ihr wirklich, eure Resolutionen, Boykotte und Sanktionen schicken uns zurück in die Gaskammern?“, so hochemotional Israels Botschafterin, die zornig den weltweit blühenden Antisemitismus anprangerte. Israel sei nicht darauf angewiesen, gemocht zu werden – es habe den unbedingten Willen als jüdische Staat zu überleben. „Ob ihr uns mögt oder nicht – ist uns gleich. Wir waren vor euch da. Und wir werden auch nach euch da sein“, zitierte sie den russischen Schriftsteller und Zionisten Wladimir Zeev Jabotinsky.
Es ist nicht das erste Mal seit dem 7. Oktober 2023, dass Netanjahu eine weitere militärische Eskalation anordnete. Als Israel Mitte Juni begann, Iran zu bombardieren, waren die Befürchtungen in der westlichen Welt vor der Gefahr eines Dritten Weltkriegs enorm groß. Als Trump schließlich Tage später US-Bomber nach Teheran schickte, reagierten Politiker und Öffentlichkeit im Westen teilweise mit Entsetzen.
Nachdem es aber schließlich beim 12-Tage-Krieg gegen die Mullahs in Iran blieb und mit einer dramatischen Schlappe für die menschenverachtenden Islamisten in Teheran endete, waren es nicht viele, die ihre Anerkennung über die Strategie Netanjahus und Trumps öffentlich äußerten; ausgerechnet Kanzler Friedrich Merz war es vorbehalten, als einer der wenigen sogar von Dankbarkeit zu sprechen: Die Israelis hätten hier offensichtlich „die Drecksarbeit“ für den freien Westen erledigt, so der CDU-Politiker in diesem lichten Moment.
Das geplante Vorrücken der israelischen Streitkräfte in die weitgehend zerstörte Stadt Gaza beschert Netanjahu wieder einen globalen Aufschrei der Empörung. US-Präsident Trump, der nach Ansicht amerikanischer Experten wirklich sehr gerne den Friedensnobelpreis bekommen möchte, stimmt offensichtlich trotz der absehbaren Reaktionen auch im westlichen Bündnis Netanjahus Plänen zu.
Hintergrund ist wohl die fundamental unterschiedliche Einschätzung der Weltlage im Weißen Haus, die mit den Ansichten Netanjahus übereinstimmt, und den Sichtweisen in Europas Hauptstädten. Für Trump und den Israeli gibt es sehr wohl einen Kampf der Kulturen, den Kampf zwischen expansive, offensive Islamisten unterschiedlichster Couleur und dem freien Westen. Derzeit geht es darum, die Hamas endgültig zu atomisieren. Der Preis dafür dürfte groß werden.
Allerdings weiß heute wohl niemand, wie die Zukunft des Gazastreifens mit den mehr als zwei Millionen Palästinensern aussehen wird. Die Städte und Orte in dem schmalen Landstreifen sind durch den Krieg weitgehend zu Ruinenlandschaften geworden, die Infrastruktur ist so gut wie vernichtet, angesichts tausender, oft zerstörter und zerbombter Tunnel sind Grund und Boden löchrig und völlig instabil.
Trump hatte im Februar über eine Umsiedlung der Palästinenser in arabische Staaten gesprochen und davon fantasiert, aus dem Gazastreifen eine „Riviera des Nahen Ostens“ zu machen. Sonderlich realistisch scheinen solche Überlegungen nicht zu sein.
Rechtsradikale Politiker in Israel träumen von einer Eingliederung des Gazastreifens in Israel, der Aussiedlung oder Vertreibung der Bevölkerung in die arabischen Staaten. Nicht nur Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International prangern solche Ideen als Pläne für eine ethnische Säuberung an.
Eine angedachte Übernahme der Verantwortung für den Landstreifen durch arabische Staaten ist gleichfalls schwer vorstellbar. Eher noch könnte die von der PLO kontrollierte Palästinensische Autonomiebehörde des Westjordanlands teilweise die Verantwortung für den Gazastreifen übernehmen – unter vermutlich scharfer israelischer Kontrolle.
Trump hofft sicher, dass zumindest mittelfristig moderate arabische Staaten zur Lösung der Probleme beitragen werden. Schließlich war es dem US-Republikaner schon in seiner ersten Amtszeit gelungen, 2020 mit dem Abraham-Abkommen eine diplomatische Normalisierung zwischen Israel und Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko zu erreichen.
Derzeit aber dominiert fast in der gesamten arabischen Welt angesichts der schlimmen humanitären Lage im Gazastreifen eine heftige anti-israelische Stimmung. Israels Regierung steht vor gewaltigen Problemen, wenn es um eine Planung für die Nachkriegszeit geht. Die nächsten Schritte werden es kurzfristig ganz sicher nicht leichter machen.