Immer neue Festnahmen: Erdogans Repression trifft auf Europas Schweigen

vor etwa 2 Monaten

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Bildquelle: Tichys Einblick

Seit Jahren herrscht in der Türkei ein permanenter Ausnahmezustand in Zeitlupe: Nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 hat Präsident Erdogan systematisch Medien, Universitäten, Justiz und Verwaltung gesäubert. Zehntausende Menschen wurden entlassen, verfolgt oder verhaftet. Was vorgeschoben als Krisenintervention begann, ist längst zur Methode geworden: Opposition wird nicht bekämpft, sondern strukturell unmöglich gemacht.

Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul und aussichtsreicher Oppositionskandidat für die Präsidentschaft, sitzt seit dem 19. März in Untersuchungshaft. Ihm wird unter anderem die Beleidigung eines Staatsanwalts vorgeworfen, dazu Korruption und Führung einer kriminellen Vereinigung. Ein Verfahren? Gibt es nicht. Eine Anklageschrift? Fehlanzeige. Dafür eine Bilderinszenierung der Einschüchterung: İmamoğlu in Handschellen, abgeführt von einem Großaufgebot an Polizei.

Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Dutzende Mitarbeiter der Stadtverwaltung festgenommen. Über hundert Menschen sitzen inzwischen in Haft, darunter Bezirksbürgermeister, Berater, Verwaltungsangestellte. Selbst vor dem öffentlichen Zeigen von İmamoğlu-Bildern schreckt das Regime nicht zurück: Banner werden verboten, Plakate entfernt, „Free İmamoğlu“-Slogans kriminalisiert.

Inhaftiert wurde nun auch abermals sein Anwalt Mehmet Pehlivan. Vorgeworfen wird ihm unter anderem, er habe Ermittlungen gegen Zeugen beeinflusst und sei Teil einer kriminellen Organisation. Er selbst spricht von einer „juristischen Verschwörung“, seine Partei sieht einen gezielten Versuch, die gesamte Verteidigung zu delegitimieren. Wer İmamoğlu verteidigt, wird damit selbst zur Zielscheibe.

Der juristische Angriff gilt nicht nur dem Angeklagten, sondern dem gesamten rechtsstaatlichen Prinzip: Anwaltliche Tätigkeit für politische Gegner wird kriminalisiert, Verteidigung zur mutmaßlichen Mittäterschaft erklärt. Das trifft den Kern eines jeden Rechtssystems und wird in Europa dennoch eher mehr als weniger achselzuckend zur Kenntnis genommen. Solange keine Pride-Flagge abgehängt wurde, kommt der Empörungszug nicht mehr in Fahrt. Außerdem sind gerade alle Aufmerksamkeiten der linken Medienkamarilla auf das sich selbst verteidigende böse Israel gerichtet.

Zur dritten Zielscheibe der letzten Tage wurde Fatih Altaylı. Der Journalist und YouTuber mit 1,5 Millionen Abonnenten wurde wegen angeblicher Bedrohung und Beleidigung des Präsidenten verhaftet. Auslöser war ein Video, in dem Altaylı erzählte, dass das türkische Volk historisch nie bereit gewesen sei, die Macht ewig abzugeben und dass es auch heute für sein Wahlrecht kämpfen werde. Eine historische Einordnung, die zum Haftgrund erklärt wurde.

Altaylıs Fall zeigt, wie beliebig die Schwelle zur Kriminalisierung geworden ist. Ein geschnittener Clip reicht, ein empörter AKP-naher Geschäftsmann reicht und der Rechtsstaat tritt zurück, die Polizei vor. Dass sich besagter Unternehmer nach der Verhaftung öffentlich damit brüstete, Altaylı „festnehmen lassen“ zu haben, rundet das Bild ab: Die Willkür ist zur Währung der Macht geworden.

Was früher diplomatische Verwerfungen ausgelöst hätte, ruft heute keine internationale Reaktion mehr hervor. Drei zentrale Figuren der türkischen Opposition sitzen in Haft – und in Brüssel, Berlin oder Straßburg scheint es nennenswert niemand oder kaum jemand für erforderlich zu halten, das mit einem dicken Ausrufezeichen nach oben zu setzen. Erdogan bleibt wichtig: als Flüchtlingspuffer, als NATO-Stimme, als angeblicher und vorgeschobener Stabilitätsanker. Die Repression wird als „innenpolitische Angelegenheit“ still entsorgt. Hauptsache, er hat ganz lange Macrons Fingerchen beim Handschlag festgehalten.

Auch wenn die großen Straßenproteste vorerst abgeebbt sind – auf dem Campus, im Exil, in den sozialen Netzwerken regt sich Widerstand. Und İmamoğlu bleibt populär. In Umfragen liegt er vor Erdogan, seine Partei führt. Das eigentliche Urteil über diese Regierung könnte daher weniger im Gerichtssaal fallen als an der Wahlurne.

Bis dahin allerdings bleibt die Türkei ein Land, in dem Opposition ausgeschaltet wird – für jene, die sie wagen, und für ein Regime, das sie nur noch unterdrücken kann. Vielleicht ist der türkische Weg mit Oppositionellen zu verfahren allerdings auch ein interessanter für Vertreter in der EU und England, wo beginnende Parallelen nicht mehr sehr weit von der Hand zu weisen sind.

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