Millionen protestieren gegen Erdogan

vor 28 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Einen Wächterrat wie im Iran der Mullahs gibt es noch nicht in der Türkei von Recep Tayyip Erdogan. Aber das derzeit gewählte Verfahren steht sozusagen einen Schritt davor. Vier Tage nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu erfuhr die Öffentlichkeit von einer eröffneten Untersuchung wegen Bestechung gegen den Politiker. Seit dieser Nachricht sitzt Imamoglu auch offiziell in Untersuchungshaft. Neben ihm betreffen die Ermittlungen 100 weitere Personen. Dass die alle in Haft sitzen, darf bezweifelt werden.

Gegen Imamoglu wird derweil auch wegen „terrorbezogener“ Vorwürfe ermittelt. Gemeint sind damit vermeintliche Kontakte zur kurdischen PKK. Zugleich wurde dem CHP-Politiker – einen Tag vor der Festnahme – sein Universitätsabschluss aberkannt. Inzwischen wurde auch sein Anwalt, Mehmet Pehlivan, festgenommen, ebenfalls mit fabrizierten Vorwürfen, wie kritische Beobachter meinen. Das sind sämtlich Zeichen dafür, dass Erdogan bei kommenden Wahlen gerne einen Konkurrenten weniger hätte. Im Iran prüft der zwölfköpfige Wächterrat, welche Kandidaten bei Wahlen zulässig sein sollen. In der Türkei entscheidet eventuell sogar Erdogan allein.

Schon seit 2016 ist der kurdische Politiker Selahattin Demirtas inhaftiert. Beobachter sehen ein gezieltes Vorgehen zur Beeinflussung von Wahlen. Dass die Türkei kein Rechtsstaat ist, war schon vorher durch die anlasslose Inhaftierung von Journalisten klar geworden. Erdogan hatte ein Jahrzehnt Zeit, um die Justiz des Landes in seinem Sinne umzuformen. Das vermutete Endziel könnte eine islamische, autoritär regierte Türkei ohne störende Interventionen des Parlaments sein. Aber hat ihn die Festnahme Imamoglus diesem Ziel nun näher gebracht oder nicht?

Was Imamoglu angeht, muss man sagen, dass Erdogan sich früh an die Arbeit gemacht hat: Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden planmäßig erst im Mai 2028 statt. Bis dahin wird viel Zeit sein, damit Gras über die aktuellen Proteste wächst, die immerhin Hunderttausende nicht nur auf die Straßen Istanbuls bringen, sondern auch in kleineren Städten wie Konya im Zentrum des Landes und sogar in Erdogans heimatlichem Rize am Schwarzen Meer. Optimisten sprechen von bis zu zwei Millionen Demonstranten landesweit, die am Samstag auf die Straßen des Landes gingen. Der Literat Orhan Pamuk meint gar, die „begrenzte Form der Demokratie in der Türkei“ neige sich damit ihrem Ende zu.

Eine durchaus breitere Demokratie-Bewegung zeigt sich so. Aber bisher war nicht an eine Durchsetzung bei Wahlen zu denken, ob das nun an den Zahlen liegt – die Bevölkerung abseits der großen Städte dürfte dann doch zu Erdogan stehen – oder an den ‚Kontrollmechanismen‘, die Erdogan auch im Wahlablauf selbst zu etablieren weiß. Erdogan regiert die Türkei seit dem 28. August 2014 ungestört.

Zudem meint sogar eine überaus Erdogan-kritische Seite wie Nordic Monitor, dass einige der Korruptionsvorwürfe, die nun gegen Imamoglu und andere erhoben werden, wahr sein könnten. Die Korruption sei eben auch in der Türkei ein zu verbreitetes Phänomen, als dass sie nicht auch den einflussreichen Oberbürgermeister betreffen könnte. Trotzdem sei die Festnahme wegen solch einer Ermittlung verfrüht erfolgt – also mit Fleiß vorangetrieben worden. Imamoglu verkündete derweil aus seiner Zelle heraus: „Ich werde mich nie beugen, alles wird gut.“

Leider sei es auch höchst wahrscheinlich, dass Imamoglu verurteilt werde. Er wäre nicht die erste politische Figur, die vom Erdogan-Regime ausgeschaltet wurde. Laut Nordic Monitor ist es heute praktisch unmöglich geworden, eine funktionierende Opposition gegen die Regierungspartei AKP aufzubauen. Zu sehr hat sich die Macht Erdogans durch das System gefressen. So stünden insbesondere die großen Medien unter der Kuratel der Regierung. Abweichende Medien wurden geschlossen, während ihre Journalisten das Land verließen. Die Zerschlagung der Gülen-Bewegung nach dem möglichen Putschversuch von 2016 zerlegte auch diesen Teil der Opposition, der selbst nicht weniger islamisch orientiert ist als die AKP, weitgehend.

Nun ist gar von einer Sonderverwaltung für Istanbul die Rede, so wie sie seit langem für viele kurdische Ortschaften existiert. Aber vielleicht wird das nicht nötig sein. Wenn die Massen auf die Straßen strömen, dann hat auch Erdogan staatliche Sicherheitskräfte zur Verfügung, um solche Proteste zu unterdrücken und zu untergraben. Daneben gibt es da noch die inoffiziellen Kampftruppen des politischen Islams, die sich schon wegen beschädigter Moscheen und Friedhöfe ereiferten und zur Gegenwehr gegen die Anti-Erdogan-Proteste aufriefen.

Nun schlägt sich die sozialdemokratisch-kemalistische CHP derzeit nicht schlecht in Umfragen, liegt praktisch gleichauf mit der AKP bei um die 30 Prozent. Laut einer anderen Umfrage unterstützt eine Mehrheit der Türken die aktuellen Proteste gegen Erdogan. Aber wie weit sich das in einen Wahlsieg materialisieren kann, das bleibt unklar. Es bleibt trotz der vielen Bilder vom Protest bei einem Kontrast zwischen Stadt und Land, selbst wenn es dabei um eine 16-Millionen-Stadt wie die am Bosporus geht.

Ganz aus blieben die internationalen Reaktionen zu den Geschehnissen, und zwar sowohl aus den USA als auch aus der direkt benachbarten EU. Die EU verfolgt die Festnahme wie die Proteste weitgehend gelähmt und stumm. Man ist sich wohl klar, dass man eines gerade gar nicht braucht: Ärger mit Erdogan. Das ist eigentlich immer so, schon wegen der Migranten, nun auch noch wegen des Militärs. Daneben scheint unausgesprochen klar, dass die Türkei einer anderen Region angehört, in der sozusagen andere Gesetze gelten. Auf Deutsch gesagt: Man hat nichts anderes erwartet.

Aber eigentlich könnte (müsste) die EU auch etwas erwarten von einem Land, dem sie nicht nur Milliarden Euro für die Abwehr der illegalen Zuwanderung zuschiebt, sondern auch schon Milliarden Euro zahlte, um den einstweilen abgesagten EU-Beitritt der Türkei vorzubereiten. Aber von Kallas, Costa und von der Leyen ist in dieser Sache wohl am wenigsten zu erwarten. Zu verflochten ist man schon mit dem Potentaten vom Bosporus. Auch von außen kommen also nur stabilisierende Zeichen auf Erdogan zu. Doch die Frage bleibt, ob er den Bogen auch überspannen kann oder weitermachen kann wie ein karibischer Diktator, der frohgemut zwischen den Blöcken segelt, dabei mal mit dem einen (USA), mal mit dem anderen (Russland) anbandelt und Geschäfte treibt.

Pikachu trotzt Erdogans Ordnungsmacht: In der Türkei ist das knallgelbe Kult-Pokémon zur Protest-Ikone geworden. Ein Video, das viral ging, zeigt einen Demonstranten im aufblasbaren Pikachu-Kostüm, wie er mit tapsigen Minischritten der Polizei entkommt – aufgenommen wurde die Szene offenbar in Antalya.

Nutzer generierten daraufhin zahllose KI-Bilder:

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