
Großbritannien erlebt eine neue Welle von Protesten – und diesmal kommen sie nicht von der urbanen Mittelschicht, die ihre „cleveren Schilder“ auf Anti-Brexit-Demos zur Schau stellte. Die neuen Demonstranten sind Menschen, die sonst oft übersehen, diffamiert oder bevormundet werden: Arbeiter, kleine Selbständige, Familien aus der unteren Mittelschicht. Was diese Proteste von früheren unterscheidet: Sie zeigen Wirkung.
In der Stadt Epping, rund 30 Kilometer nordöstlich von London, haben die Einwohner in nur sechs Wochen erreicht, was mehrere Regierungen über Jahre hinweg nicht geschafft haben: Die Schließung eines Migrantenhotels. 2020 hatte das „Bell“ seine Türen für Asylbewerber geöffnet – wie Hunderte andere Hotels im Land. Mit Beginn der Pandemie brachen die Einnahmen weg, gleichzeitig stieg die Zahl der Menschen, die in kleinen Booten über den Ärmelkanal kamen. Für viele Hoteliers war es ein lukratives Geschäft, ihre Häuser mit staatlichen Geldern füllen zu lassen.
Doch nun hat ein Gericht entschieden, dass die 140 männlichen Bewohner das Hotel verlassen müssen. Offiziell begründet wurde die Entscheidung mit Verstößen gegen Bauvorschriften und „der unzumutbaren Angst vor Kriminalität und Konflikten“, die den Anwohnern zugemutet worden sei. Den rechtlichen Antrag stellte der Bezirksrat von Epping Forest – allerdings erst, nachdem Tausende Bürger auf die Straße gegangen waren und die Schließung forderten.
Wer diese Proteste vorschnell und reflexhaft als Fremdenfeindlichkeit abtut, übersieht die Hintergründe. Die Demonstrationen begannen Anfang Juli, kurz nachdem ein äthiopischer Asylbewerber aus dem „Bell“ wegen des Verdachts der sexuellen Belästigung eines jungen Mädchens festgenommen wurde.
Fünf Jahre lang hatten die Anwohner die Umstände hingenommen – bis dieser Fall das Fass zum Überlaufen brachte. Und die Sorgen der Menschen wurden zehn Tage später bestätigt, als ein weiterer Bewohner des Hotels, ein syrischer Asylbewerber, ebenfalls wegen sexueller Übergriffe angeklagt wurde. „Die Bedenken der Menschen in Epping sind durch und durch berechtigt“, heißt es im Urteil.
Epping ist kein Einzelfall. Die Proteste haben längst auch zahlreiche andere Orte erreicht – von Norfolk bis Tower Hamlets. Für das lange Wochenende sind Kundgebungen vor rund 30 Migrantenhotels geplant. Das Urteil von Epping hat die Bewegung spürbar gestärkt.
Zwar kam es bei einzelnen Demonstrationen zu gewalttätigen Übergriffen auf Polizisten, Hotelangestellte oder Migranten. Rechtsextreme Gruppen versuchten, sich an die Bewegung dranzuhängen. Doch die Proteste sind insgesamt erstaunlich diszipliniert. In vielen Aufrufen heißt es ausdrücklich: „Keine Masken, keine Gewalt, kein Alkohol.“ Mütter und Großmütter prägen das Bild, während extreme Gruppen explizit ferngehalten werden. Wer mit den Demonstranten spricht, hört meist deutliche Distanzierungen von der extremen Rechten – nicht zuletzt, weil einige Proteste sogar multirassisch geprägt sind. Selbst große Medien, die die Bewegung anfangs pauschal als „faschistisch“ diffamierten, mussten inzwischen einräumen, dass es sich um überwiegend lokale und familienfreundliche Initiativen handelt.
Der Union Jack und das Georgskreuz sind zu Symbolen der Bewegung geworden. Doch es geht um weit mehr als nur um die Nutzung von Hotels zur Unterbringung von Asylbewerbern. Die Proteste sind Ausdruck eines tieferen Konflikts: nationale Souveränität, Selbstbestimmung und der Widerstand gegen eine Politik, die viele als von oben verordnet und undemokratisch empfinden. Die Bilder erinnern an andere Bewegungen der letzten Jahre: den Trucker-Konvoi in Kanada gegen Impfpflichten, die Bauernproteste gegen EU-Auflagen oder die „Gilets Jaunes“ in Frankreich. Überall trugen die Demonstranten nationale Fahnen – und wehrten sich gegen Entscheidungen realitätsfernter Eliten.
Die Wut richtet sich nicht nur gegen einzelne Hotels, sondern gegen ein Asylsystem, das viele als gescheitert ansehen. Die britische Regierung entscheidet von Whitehall aus, welche Städte Migranten aufnehmen müssen. Die Bewohner erfahren es erst hinterher. Besonders betroffen sind ärmere Regionen, weil dort Hotelzimmer am billigsten sind. „Politische Entscheidungen werden von oben herab getroffen – die Menschen vor Ort tragen die Folgen“, sagen Aktivisten. Viele Briten fühlen sich ihrer politischen Gestaltungsmacht beraubt: Trotz mehrfacher konservativer Wahlsiege und Wahlversprechen zur Grenzkontrolle sei die Migration – legal wie illegal – völlig außer Kontrolle geraten.
Die Proteste haben die politische Debatte in kürzester Zeit verschoben. Selbst Labour-geführte Gemeinden prüfen nun rechtliche Schritte. Führende Labour-Abgeordnete fordern plötzlich Abschiebungen nach „Ruanda-Vorbild“ – obwohl ihre Partei dieses Programm gleich am ersten Tag ihrer Regierungsübernahme abgeschafft hatte. In Waterlooville verhinderten Anwohner, dass ein Wohnblock in Asylunterkünfte umgewandelt wurde.
Für das Innenministerium wird es immer schwieriger, das Problem einfach „weiterzureichen“. Die neue Labour-Regierung unter Premier Keir Starmer, stark geprägt von Menschenrechtsanwälten, scheint bislang nicht gewillt, die grundlegenden Fragen anzupacken – etwa die Rolle der Europäischen Menschenrechtskonvention oder der UN-Flüchtlingskonvention. Doch der Druck wächst kontinuierlich. Wenn Starmer nicht handelt, steht ein Nigel Farage in den Startlöchern, dessen Partei sich immer größerer Zustimmungswerte erfreuen kann.
Die Botschaft dieser Bewegung ist klar: Die Bevölkerung will das aus dem Ruder gelaufene Asylsystem nicht länger hinnehmen.
Epping war erst der Anfang.