
Offiziell ist das Kabinett von Kanzler Friedrich Merz (CDU) schon seit dem 6. Mai im Amt, doch so richtig los geht es eigentlich erst heute.
Im Koalitionsausschuss soll um 16 Uhr das „70-Tage-Programm“ beschlossen werden, in dem die ersten Gesetzesvorhaben aufgelistet sind, die bis zur Sommerpause zumindest auf dem Weg sein sollen. Sogenannte Turbo-Abschreibungen für die Wirtschaft sollen dabei sein, sanfte Änderungen beim Staatsangehörigkeitsrecht und erste Sozialbeschlüsse für die SPD wie etwa das Festschreiben des Rentenniveaus bei 48 Prozent vom letzten Nettoverdienst. Und ein Fahrplan für den Haushalt 2025 ist natürlich auch dabei, denn bislang fährt die Bundesregierung noch im Not-Modus der „einstweiligen Haushaltsführung“, bei dem jedem Ressort ein Zwölftel des Etats vom Vorjahr zugewiesen wird.
Eine Sitzung des Bundeskabinetts im Bundeskanzleramt in Berlin.
In der Öffentlichkeit ist die Merz-Koalition bislang allerdings eher mit Ankündigungen und deren Rücknahme aufgefallen. Jüngstes Beispiel: Merz’ markige Ansage zur Ukraine.
„Es gibt keine Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind. Weder von den Briten, noch von den Franzosen, noch von uns. Von den Amerikanern auch nicht“, sagte er am Montag beim „Europaforum“ auf der „re:publica“, einer dezidiert linken Digitalkonferenz in Berlin, die in der Vergangenheit auch schon damit auffiel, dass sie keinen Stand der Bundeswehr am Rande des Treffens akzeptieren wollte.
Was als kraftvolle Ansage Richtung Moskau gedacht war, verpuffte allerdings wenig später wieder, als sein Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) die neue Marschroute wieder einsammelte: „Was die Reichweite angeht, will ich noch sagen, da gibt es keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat“, sagte er auf einer Pressekonferenz.
Klarer Kurs geht anders. Die Nein-Doch-Nein-Regierung regiert bislang im Interview-Modus wie der quirlige Film-Komiker Louis de Funès (†1983). Die neue SPD-Sozialministerin Bärbel Bas etwa forderte gleich zu Beginn, dass künftig auch Freiberufler und Beamte in die allgemeine Rentenversicherung einzahlen sollten. Mit uns nicht abgesprochen, bringt nichts, steht nicht im Koalitionsvertrag, kam umgehend von der Union. Machen wir nicht.
Sein „Nein! Doch! Oh!“ ist legendär: Louis de Funès
Die neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) hatte in der vergangenen Woche einen neuen Kurs in der Atompolitik ausgerufen und erklärt, dass aus dem EU-Haushalt künftig auch Atom-Projekte finanziert werden könnten. Das wiederum wollte ihr Kabinettskollege, Umweltminister Carsten Schneider (SPD) so nicht stehen lassen und grätschte rüde dazwischen: Eine entsprechende Einigung „gibt es nicht und wird es mit der SPD auch künftig nicht geben“, ließ er wissen. Anderslautende Äußerungen seien „Privatmeinungen“.
Nachdem Außenminister Johann Wadephul (CDU) beim Gipfel in Istanbul erklärt hatte, dass sich Deutschland dem Ziel von fünf Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigungsausgaben anschließen werde, ging wiederum Finanzminister Klingbeil dazwischen, den Wadephul dezent übergangen hatte. Man einigte sich auf einen seltsamen Kompromiss, wonach 3,5 Prozent für die Bundeswehr angestrebt werden und 1,5 Prozent für Infrastruktur hinzukommen sollen, über die die Panzer, Haubitzen etc. transportiert werden sollen. Straßen und Brücken als Militärinvestitionen, eine abenteuerliche Konstruktion zur Streitvermeidung.
Ja-Nein-Doch-Nein. Selbst Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) sah sich kleinteiligen Debatten aus der SPD ausgesetzt, ob die von ihm unmittelbar nach Amtsübernahme angeordneten Zurückweisungen von Migranten ohne Einreiseberechtigung an den deutschen Grenzen einen Notstand nach Art. 72 der Europäischen Verträge erfordere.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU)
Eine Koalition in Lauerhaltung und mit Dementi-Pingpong, die schon jetzt einiges an internen Gefechten erwarten lässt. So ist etwa vorgesehen, die Schuldenbremse des Grundgesetzes grundsätzlich zu reformieren, wozu allerdings eine Zweidrittelmehrheit mithilfe der Linkspartei gebraucht wird. Die Union will in Wahrheit die Schuldenbremse nicht wirklich lockern und könnte damit leben, wenn es keine Einigung gibt. In diesem Fall dürfte die SPD bei Projekten der Union in den Bummel-Modus verfallen.
Zahlreiche strittige Projekte sind zudem in Kommissionen ausgelagert oder stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Auch hier sind spannende Debatten programmiert. Vor allem aber blicken in der Union viele mit Sorge auf die sorglose Breitbeinigkeit, mit der Kanzler Friedrich Merz bei öffentlichen Auftritten im In- und Ausland mal eben unabgesprochen die Richtung ändert, wenn es gerade in die allgemeine Stimmung passt. Kurz nach der vermeintlichen Reichweitenfreigabe räumte Merz dann bei der „re:publica“ auch noch kurzerhand die deutsche „Staatsräson“ ab, wonach Berlin grundsätzlich an der Seite Israels steht. „Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen.“
Dass die Hamas dezidiert ausschließlich die israelische Zivilgesellschaft angreift, dass man eine solche Distanzierung als Kanzler eines der wichtigsten Verbündeten Israels vielleicht öffentlich vorbereiten, intern absprechen und vielleicht nicht im linken Ambiente einer Digitalkonferenz verkünden könnte, scheint den Spontanstrategen Merz nicht sonderlich umzutreiben.
In der Union gibt es jenseits der Flitterwochenstimmung in der neuen Koalition bei manchen eine bange Sorge, ob und wie lange diese neue Form der kraftvollen Auftritte gut geht.
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