
Die schwarz-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen möchte das Hochschulgesetz reformieren – der Gesetzesentwurf bringt nun Verfassungsrechtler auf den Plan. Sie warnen vor einer neuen Verdachtskultur an Universitäten und werfen der Regierung vor, die Universitäten nach amerikanischem Vorbild umzubauen. Das sogenannte „Hochschulstärkungsgesetz“ von NRW-Wissenschaftsministerin Ina Brandes (CDU) sieht unter anderem ein neues Sicherheitsrecht vor. Zuerst hatte Welt darüber berichtet.
125 Professoren haben einen Appell an die Landesregierung unterschrieben, darunter nach eigenen Angaben Verfassungsrechtler „aus allen juristischen Fakultäten des Landes NRW“. Eine „deutliche Mehrzahl aller aktiven Hochschullehrer des Verfassungsrechts“ habe unterzeichnet, „mehrere Rechtsfakultäten sind mit ihrem Öffentlichen Recht vollständig vertreten“, schreiben die Autoren des Appells. Der Gesetzentwurf sei „von einem tiefen Misstrauen gegen die Selbstverwaltung in Forschung und Lehre durchzogen und etabliert gefährliche Instrumente, die Innovation und Engagement beschädigen werden.“ Die Professoren kritisieren unter anderem die neuen Regeln zur „Sicherheit und Redlichkeit in der Hochschule“.
Ina Brandes ist Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.
Offiziell sollen den Hochschulen durch die neuen Regelungen „Instrumente an die Hand gegeben werden, um auf einen jeweils individuellen Missbrauch von Macht und auf ein individuelles Fehlverhalten einzelner Personen angemessen reagieren und den Schutz vulnerabler Gruppen zu Wege bringen zu können.“ Konkret heißt es im entsprechenden Gesetzes-Passus, dass Mitglieder und Angehörige der Universität, also etwa Studenten, das Recht haben, sich bei einer Ansprechperson innerhalb der Universität zu beschweren, wenn sie sich „in ihrer körperlichen Unversehrtheit, ihrer sexuellen Integrität und Selbstbestimmung, ihrem sozialen Geltungsanspruch oder ihrer Handlungs- und Entschlussfreiheit hinsichtlich ihrer persönlichen Lebensgestaltung unmittelbar beeinträchtigt fühlen“.
Julian Krüper, Rechtsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, erklärt auf dem Verfassungsblog, welche Gefahren von dem neuen Gesetz ausgingen: „Es geht um die Etablierung einer Verdachts- und Akkusationskultur an den Hochschulen unter dem trügerischen Label eines ‚Sicherheitsrechts‘ – und damit um die Art von amerikanischen Hochschulverhältnissen, die alles andere sind, nur nicht sicher und sicher nicht der Freiheit von Wissenschaft, Forschung, Lehre und Studium dienlich.“
Julian Krüper ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und interdisziplinäre Rechtsforschung an der Ruhr-Universität Bochum.
Krüper bemängelt, dass gar nicht klar definiert sei, was der Gesetzgeber meint, wenn er die „Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs und der Handlungs- und Entschlussfreiheit hinsichtlich der persönlichen Lebensgestaltung von Hochschulangehörigen“ verbietet. Weil diese Formulierung so unklar sei, öffne sie Raum dafür, dass nach völlig subjektiven Kriterien sanktioniert werden könne. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass zur Ausgestaltung dieses Passus jede Hochschule „ein Konzept zur Berücksichtigung der Vielfalt“ entwerfen müsse, Verstöße dagegen müssten dann entsprechend geahndet werden.
Krüper schreibt: „Was das bedeutet, zeigt ein reales Beispiel aus meiner Fakultät: In einer Lehrveranstaltung zum Antidiskriminierungsrecht wurde die Frage aufgeworfen, ob Adipositas als Behinderung im Sinne des AGG beziehungsweise der korrespondierenden EU-Richtlinie zu verstehen sei – eine sogar vom EuGH behandelte Frage. Schon deren bloße Thematisierung hat, ungeachtet ihrer Beantwortung, zu einer Beschwerde geführt, die darin eine Diskriminierung (‚fat shaming‘) sah. Soll das künftig ernstlich sanktioniert werden?“
Könnten also bald immer dann Sanktionen gegen Professoren verhängt werden, wenn sich Studenten gekränkt fühlen? Zumindest Krüper findet, dass man den Gesetzentwurf sehr verkürzt mit den Worten zusammenfassen kann: „Diskriminiert ist, wer sich diskriminiert fühlt.“ Er warnt zudem vor sogenannten „chilling effects“, also davor, dass sich Professoren aus Sorge vor Sanktionen schon im Vorfeld selbst beschränken könnten: „Und man muss vermuten, dass genau das von der Ministerin gewollt ist.“
Ministerin Brandes erklärte gegenüber Welt, das neue Gesetz sehe keine neuen Tatbestände vor. Vielmehr sei es potenziellen Täter bisher „sehr leicht“ gemacht worden, „ihren Status und ihre Macht zu missbrauchen“: „Selbst bei schwersten Vorwürfen von sexuellen Übergriffen bleiben Professoren bislang in Amt und Würden, bis das Disziplinarverfahren abgeschlossen ist.“
Im Appell der Verfassungsrechtler werden auch weitere Punkte des Gesetzesentwurfs kritisiert. So seien die Regelungen zur Promotionsbetreuung „von einer Missbrauchsperspektive durchdrungen und inhaltlich vollkommen sachwidrig“. Dass Dissertationen nicht mehr durch die zuständigen Betreuer bewertet werden sollen, sei „angesichts der hohen Ausdifferenzierung der Fachforschung von vornherein nicht praktikabel. Es ist schlicht unmöglich, dass praktisch jede/r Hochschullehrende sämtliche Forschungsarbeiten des Gesamtfachs vollständig in der Tiefe beurteilen könnte.“
Lesen Sie auch: Hamburger Universitäten geben 1,2 Millionen Euro für Gender-Projekte aus