
An der Ostflanke Europas liegt Ungarn. Ein vergleichsweise kleines Land mit rund 9,6 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von circa 210 Milliarden Euro. Da wäre es nicht überraschend, wenn es politisch und wirtschaftlich von seinen europäischen Partnern dominiert würde. Um dem entgegenzuwirken, verfolgt die Regierung Ungarns eine Politik der „Östlichen Öffnung“ – und des gezielten Austarierens westlicher und östlicher Interessen.
Tichys Einblick sprach mit Levente Magyar über die Rolle und Position Ungarns. Er ist stellvertretender Minister des Äußeren in der Regierung Viktor Orbáns.
Tichys Einblick: Kürzlich kündigte der chinesische Autohersteller Build Your Dreams an, eine neue Fabrik in Ungarn zu bauen. Dies wird die größte chinesische Autofabrik auf dem Kontinent sein. Will Ungarn zum chinesischen Brückenkopf in Europa werden?
Levente Magyar: Das ist nicht das ausdrückliche Ziel unserer Politik, aber wenn Ungarn zufällig zur Produktionsbasis für chinesische Unternehmen in Europa wird, werden wir diese Gelegenheit auch nicht ausschlagen. Seit 15 Jahren bemühen wir uns, chinesischen Unternehmen die wirtschaftlichen Möglichkeiten Ungarns aufzuzeigen – seit Premierminister Orbán 2010 die Politik der „Öffnung nach Osten“ verkündet hat. Angesichts der sich zugunsten Chinas verschiebenden globalen wirtschaftlichen Bedingungen war das eine erfolgreiche Politik. China erweitert nicht nur sein Handelsnetzwerk, sondern investiert auch massiv im Ausland – und Ungarn hat davon stark profitiert.
Was ist das Motiv hinter diesem Fokus auf asiatische Investitionen?
Ungarn ist nach wie vor fest eingebettet in westliche, transatlantische und europäische Wirtschaftsstrukturen. Aktuell werden etwa drei Viertel unseres Handels mit europäischen Partnern abgewickelt. Ungarn gehört zu den größten Profiteuren des Binnenmarktes. Deshalb gibt es nach wie vor große Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft – trotz aller politischen Debatten über bestimmte Maßnahmen aus Brüssel. Gleichzeitig war es ein langfristiges politisches Ziel, ein wirtschaftliches Netzwerk mit den aufstrebenden östlichen Partnern zu entwickeln, ein zweites wirtschaftliches Standbein. Da der Westen im relativen wirtschaftlichen Gewicht verliert, ist klar, dass die langfristige Wirtschaftspolitik auch eine Integration in diese neuen Märkte vorsehen muss. Und das ist uns bisher sehr gut gelungen. Ein Drittel aller in Europa getätigten Investitionen im vergangenen Jahr floss nach Ungarn – vor allem in die Automobil- und Zulieferindustrie.
Liegt der Fokus auf der Automobilindustrie oder auf allgemeinen Investitionen?
Eine Regel, die wir uns selbst auferlegt haben und die wir auch von unseren Partnern erwarten, ist, dass Ungarn entscheidet, in welchen Sektoren ausländisches Kapital erlaubt ist. Nach dem Fall des Kommunismus wurden viele strategische Wirtschaftsbereiche von ausländischen Akteuren dominiert. In den letzten 15 Jahren haben wir eine Politik der Re-Nationalisierung im Energie-, Lebensmittel-, Telekommunikations- und Rohstoffbereich betrieben. Wir erwarten, dass unsere Partner diese Entscheidungen respektieren – genauso wie wir das im Gegenzug auch tun. Was chinesische Investitionen betrifft, so konzentrieren sich diese bisher vor allem auf die Autoindustrie – was in Ordnung ist.
Gibt es auch Investitionen aus anderen asiatischen Ländern?
Auf jeden Fall. Die Öffnung nach Osten ist nicht exklusiv auf China ausgerichtet, auch wenn dies der politisch sensibelste Partner ist. Wir pflegen sehr gute Beziehungen zu Indien. Es gibt viele indische Investitionen, ebenso aus Südkorea – 2022 hat Südkorea sogar mehr Kapital in Ungarn investiert als Deutschland. Die Politik der „Interkonnektivität“ ist ein weiterer Eckpfeiler unserer Strategie – also die Balance zwischen östlichen und westlichen Partnern. Zwar war Deutschland seit dem Mauerfall der Hauptinvestor, aber mittlerweile gleichen asiatische Investitionen diese Abhängigkeit aus.
Würde Ungarn eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine künftig akzeptieren?
Eine NATO-Mitgliedschaft? Nein. Russland hat unmissverständlich klargemacht, dass es eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine niemals akzeptieren wird. Und das ist keine bloße politische Haltung, sondern eine geopolitische Realität. Mit dem Angriff auf die Ukraine wurde aus dieser Haltung blutiger Ernst. Deshalb ergibt es keinen Sinn, eine Agenda zu verfolgen, die nur zu weiteren Konflikten oder gar einer nuklearen Konfrontation führen kann. Es geht hier also nicht um richtig oder falsch, sondern um Ungarns nationale Sicherheitsinteressen. Und diese wären durch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gefährdet.
Und was ist mit einer EU-Mitgliedschaft?
Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist im Gegensatz zur NATO kein sicherheitspolitisches, sondern ein wirtschaftliches Thema. Besonders problematisch ist der forsche Druck, mit dem die EU-Kommission diesen Vorschlag vorantreibt. Nach unseren Berechnungen hätte eine Mitgliedschaft der Ukraine verheerende Auswirkungen auf die ungarische Wirtschaft. Und politisch würde ein engerer Schulterschluss mit der Ukraine den ukrainisch-russischen Konflikt in die EU importieren. Das ist aus unserer Sicht sinnlos.
Trotz starker Auslandsinvestitionen ist das ungarische Wirtschaftswachstum schwach. Während Polen ein anhaltendes Wirtschaftswunder erlebt, liegt das Wachstum in Ungarn stabil unter einem Prozent. Woran liegt das?
Zuerst einmal: Polens wirtschaftliche Leistung ist beeindruckend. Polen ist das einzige Land der Region, das selbst während der Finanzkrise Ende der 2000er Jahre und in den Corona-Jahren kontinuierlich gewachsen ist. Aber die Wirtschaften Polens und Ungarns lassen sich nicht direkt vergleichen. Ungarn ist deutlich kleiner und geopolitisch deutlich schwieriger gelegen, insbesondere beim Zugang zu Energiemärkten. Wir haben keinen Zugang zum Meer und konnten unsere Energiequellen nach dem Ukrainekrieg nicht wie andere substituieren. Hinzu kommt die Energiekrise in Deutschland, die sich stark auf Ungarn auswirkt – mehr als auf Polen, das wirtschaftlich breiter aufgestellt ist.
Angesichts der Energieproblematik – bereut die Regierung die Kooperation mit Russland beim Ausbau des Atomkraftwerks Paks?
Nein, ganz im Gegenteil – das Projekt wird jetzt erst recht weiterverfolgt. Die Entscheidung dafür fiel vor 13 Jahren unter ganz anderen geopolitischen Umständen, aber wir lassen uns davon nicht abschrecken. Die Partnerschaft mit Russland ist schwierig, aber bisher erfolgreich. Die Bauarbeiten beginnen bald. Das Gelände wurde bereits vorbereitet – unter anderem auch von deutschen Firmen, die später auch am eigentlichen Bau beteiligt sein werden. Insgesamt ist es ein internationales Projekt mit Unternehmen aus Frankreich, den USA und anderen Ländern. Es geht also nicht nur um Ungarn und Russland. Unser Ziel ist, damit ein gewisses Maß an Energieunabhängigkeit zu erreichen. Außerdem schauen wir uns derzeit die Technologie für kleine modulare Reaktoren an – insbesondere westliche Entwicklungen aus den USA, Großbritannien und Kanada.
Ist diese Energiepolitik auch Teil der Interkonnektivitätsstrategie?
Auf jeden Fall. 2010 hatten wir zwei Gaspipelines: eine mit der Ukraine (für russisches Gas) und eine mit Österreich (über die Türkei – ebenfalls russisches Gas). Seitdem haben wir Verbindungen mit Serbien, Rumänien, der Slowakei und Kroatien aufgebaut, und eine mit Slowenien ist geplant. Zudem verhandeln wir mit Shell über die Lieferung von LNG aus dem Nahen Osten über kroatische Häfen. Wir haben viel getan, um unsere Energiequellen zu diversifizieren, uns mit unseren Nachbarn zu vernetzen und zum gemeinsamen Energiemarkt beizutragen. Dennoch ist unsere Konfiguration so, dass wir weiter russisches Öl und Gas benötigen. Anders als andere EU-Partner können wir russische Produkte nicht einfach durch indische oder türkische ersetzen – die ja oft nur umetikettierte russische Produkte sind. Russlands Ölexporte nach Indien haben sich seit Kriegsbeginn verzwanzigfacht, Deutschlands Importe aus Indien haben sich vervielfacht. Deutschland kauft zwar nicht direkt russisches Öl. Aber in der Gesamtbilanz kann man die Herkunft nicht ausblenden.
Plant Ungarn neben dem Ausbau von Paks weitere Atomprojekte?
Wir planen keinen weiteren großen klassischen Reaktor. Mit dem aktuellen Projekt haben wir genug zu tun. Aber die Technologie der kleinen modularen Reaktoren (SMR) weckt großes Interesse – nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Osteuropa. Viele Länder wollen keine groß angelegten strategischen Energieprojekte mit einem einzigen Partner eingehen. SMR scheint eine Lösung zu bieten, die naturverträglich, umweltfreundlich und bezahlbar ist.
Herr Magyar, wir danken für das Gespräch.