
Jeden Sommer findet im siebenbürgischen Ort Tusnádfürdő (rumänisch: Baile Tusnad) die „Sommeruniversität” der ungarischen Regierungspartei Fidesz statt, heuer zum 34. Mal. Es ist ein Ort des Dialogs, sowohl zwischen Fidesz-Politikern und deren Kritikern (etwa zwischen Orbán’s Chefberater Balázs Orbán und Péter Kreko von liberalen Think Tank Political Capital) als auch zwischen Fidesz-Politikern, die durchaus nicht immer einer Meinung sind.
Immer ist es spannend, die Nuancen zu verorten zwischen der ersten Podiumsdebatte, wo der Leiter des außenpolitischen Ausschusses im ungarischen Parlament, Fidesz-Urgestein Zsolt Németh, sich zur Geopolitik äußert, und Orbáns Rede zum Abschluss der Woche, die meist ebenfalls geopolitische Ausblicke enthält.
Németh, von Herzen Patriot, aber auch Atlantiker, sagte dieses Jahr, es sei nicht so einfach, die Ukraine und die EU als Kriegstreiber zu beschreiben. Aber genau das ist das Narrativ der Regierung im beginnenden Wahlkampf vor den Parlamentswahlen 2026.
Die Wahlen waren das Thema, um das aktuell alle Gespräche kreisten, sowohl in den Podiumsdebatten als auch privat unter den Teilnehmern: Kann Fidesz noch einmal gewinnen? Damit stieg Orbán denn auch in seine Rede ein: In einer Demokratie gebe es keine Garantien für Wahlsiege. „Unseren internen Umfragen zufolge, wenn am kommenden Sonntag Wahlen wären, das ist also der Zustand, jetzt, acht Monate vor der Wahl, würden wir von den 106 Wahlkreisen 80 gewinnen”, sagte er. Das wäre, wenn es so käme, ein „überwältigender Sieg”. Er sei damit allerdings nicht zufrieden: „2022 gewannen wir 87 Wahlkreise”.
Fußnote: Das ungarische Parlament zählt 199 Sitze, 106 davon werden als Direktmandate in den Wahlkreisen vergeben, 93 per Listenwahl. Dass Orbán zum projektierten Listenergebnis nichts sagte, mag bedeuten, dass auch die internen Umfragen zur Listenwahl keinen klaren Sieg verheißen. Vor Ort in den Wahlkreisen ist die Oppositionspartei Tisza freilich im Nachteil, sie hat immer noch keine Kandidaten, und hat wenig Zeit, diese bislang Unbekannten in den Wahlkreisen „aufzubauen”.
Orbán verkündete die Gründung „digitaler Bürgerkreise”, analog zu den früheren analogen „Bürgerkreisen”, mit denen Fidesz nach der verlorenen Wahl 2006 seine Basis bei der Stange hielt. Auch die Politik finde im digitalen Zeitalter online statt, sagte Orbán, das Internet sei aber für Bürgerliche bislang „Feindesland”. Fidesz hat dafür bislang keine gute Lösung gefunden. Orbán hatte vor einiger Zeit einen „Klub der Kämpfer” ins Leben gerufen (Harcosok Klubja), eine Art Internet-Aktivistenarmee. Ursprünglich als Whatsapp-Gruppe, dann aber wurde daraus eine Facebook-Gruppe (zum Zeitpunkt dieses Schreibens 32.345 Mitglieder).
Die Gründung „digitaler Bürgerkreise” bedeutet wohl, dass der Kämpfer-Klub bislang nicht die erhoffte Wirkung entfaltet. Gleich nach Orbáns Rede erschien auf der „Kämpfer”-Facebookseite ein Beitritts-Aufruf zum „1. digitalen Bürgerkreis”. Ein wesentlicher Unterschied zur „Kämpfer”-Seite ist, dass man sich mit allen Kontaktdaten anmelden muss; es ist also auch ein Mittel, um genauer zu erkennen, wer und wo die eigenen Anhänger sind, und sie am Wahltag mobilisieren zu können. Man kann dort auch beantragen, selbst einen „Bürgerkreis” gründen zu wollen.
Im vergangenen Jahr hatte Orbán von der Notwendigkeit gesprochen, angesichts eines sich ändernden Weltordnung eine „Großstrategie” auszuarbeiten, womit sein Strategie-Berater Balázs Orbán beauftragt sei. (Volle Transparenz: Balázs Orbán ist mein Chef, als Kuratoriumsvorsitzender des MCC, wo ich die Medienschule leite).
Diesmal nannte der Regierungschef seinen Berater nicht mit Namen, erwähnte aber doch die Eckpunkte einer solchen Strategie. Dabei änderte er, im Vergleich zum Vorjahr, eine Grundthese: Damals hatte er von „zwei Sonnen” in der Welt gesprochen – eine chinesische Floskel, mit der die USA und China gemeint sind. Orbán hatte damals gesagt, Frieden in der Welt hänge davon ab, ob die USA gewillt seien, neben sich China als aufstrebende und ebenbürtige Großmacht zu akzeptieren.
Dieses Jahr sprach er von „drei Sonnen”: Der Ukrainekrieg habe Russland wieder als ernstzunehmende Großmacht etabliert. Neben diesen drei „Sonnen” gebe es noch die EU als relevante Macht in der Welt. „Mit drei dieser Mächte haben wir gute Beziehungen”, sagte Orbán, „mit der EU nicht.”
Die EU, so Orbán, lege es darauf an, es sich mit allen drei „Sonnen” zu verderben. Deswegen bedürfe es einer „neuen Führung” in der EU. Dennoch sah er „System” in der von ihm als verfehlt bezeichneten EU-Politik, die sich gegen die Interessen der Mitgliedsstaaten und der Bürger richte: Es gehe um das Projekt einer föderalen EU.
Zwar sei es „verrückt”, England verloren zu haben und stattdessen die Ukraine aufnehmen zu wollen. Aber im Sinne einer Strategie, die der EU immer mehr Kompetenzen zuschanzt, dies auf Kosten der Nationalstaaten, sei es logisch. „Die EU hat beschlossen, den Ukraine-Krieg fortführen zu wollen”, sagte er. Es gehe darum, Russland niederzuringen, dort einen Regimewechsel zu erzwingen, und dann daraus wirtschaftlichen Profit zu ziehen. Daraus könne ein Weltkrieg werden: „Vor jedem Krieg gibt es Vorzeichen, es ist immer ein Prozess, der zum Krieg führt”, sagte er. Als Vorzeichen nannte er eine wachsende Zahl bewaffneter Konflikte in der Welt. Die Zahl solcher Konflikte habe sich in den letzten Jahren von rund 100 auf 184 im Jahr 2024 erhöht. Andere Zeichen seien eine zunehmende Rivalität der Großmächte, zunehmende Blockbildung, und heftiges Wettrüsten.
Den Entwurf des neuen EU-Haushaltes nannte er inakzeptabel, einen „Kriegshaushalt”, der vorsehe, „20 Prozent aller Mittel der Ukraine zu geben, die restlichen 80 Prozent sollen in der einen oder anderen Weise für Kriegsertüchtigung verwendet werden”. Ungarn werde diesen Plan „nicht einmal als Verhandlungsgrundlage akzeptieren”.
In der Eventualität eines Welt- oder eines breiteren europäischen Krieges müsse Ungarn Vorbereitungen treffen, sich daraus heraushalten zu können. Gute Beziehungen zu allen Grossmächten – das sei derzeit gewährleistet, außer mit der EU habe Ungarn gute Beziehungen mit den USA, mit Russland, mit China, mit Indien und mit der turkophonen Welt. Man brauche auch eine starke Armee – Ungarn habe seine Streitkräfte klug modernisiert. Ungarn müsse zudem „selbstversorgend”, also autark werden in vier Bereichen: Lebensmittel, Energie, Rüstungsindustrie und digitale Entwicklung. Hier nannte Orbán es lebenswichtig, dass Ungarn, wie die USA und China, aber im Gegensatz zur lahmen EU, „mit der wir nichts erreichen”, Weltklasse werden müsse in der Entwicklung künstlicher Intelligenz.
Von der Geopolitik schloß Orbán am Ende den Kreis zurück zur Innenpolitik: Die EU habe beschlossen, Ungarns Regierung zu beseitigen, weil diese den EU-Beitritt der Ukraine verhindern werde. Das Projekt sei, die Opposition an die Macht zu bringen, dann würden auch die bislang rund 12 Millarden Euro an blockierten EU-Geldern ausgezahlt. Im Gegenzug erwarte die EU aber, dass eine neue Regierung den EU-Beitritt der Ukraine toleriere, den europäischen Asylpakt umsetze (also Migranten ins Land lasse), und seine Wirtschaftspolitik liberalisiere. Also Geld gegen eine „Aufgabe der nationalen Souveränität” – meinte Orbán.
Aber auch eine Fidesz-Regierung werde die blockierten Milliarden am Ende „nach Hause bringen”: Denn der nächste EU-Haushaltsrahmen könne nur einstimmig verabschiedet werden, und Ungarn werde das blockieren, wenn es sein Geld nicht bekomme.
Zum Schluss zeichnete Orbán ein düsteres Zukunftsbild für Westeuropa: Die Entwicklung zu einer „gemischten Gesellschaft” mit sehr hohem Migranten-Anteil sei dort bereits unumkehrbar. „In Wien sind 41 Prozent der Jugendlichen Muslime, 34 Prozent Christen”.
Deswegen gehöre die Zukunft Mitteleuropa: Westeuropa sei kulturell verloren. In der nahen bis mittleren Zukunft, so Orbán, werde Ungarn auch seine „westliche Grenze verteidigen” müssen gegen Migranten – die würden bald auch aus Westeuropa kommen.