
Gewählt wird erst 2026, aber Ungarn ist schon seit Monaten im Wahlfieber. Mit den Sozialen Medien als Brandbeschleuniger schleudert Oppositionschef Péter Magyar Tag für Tag krasse Töne unters Volk, und die Regierungspartei Fidesz hat diese Herausforderung zum Schlamm-Duell angenommen. Das Ergebnis ist der im Ton wohl brutalste Wahlkampf in der westlichen Welt. Orbán ein korrupter Vaterlandsverräter, Péter Magyar ein psychisch kranker Vaterlandsverräter, darunter geht es nicht.
Nun aber plötzlich geht es unerwartet – mit derselben fieberhaft gesteigerten Erregung – um Sachpolitik, noch dazu um einen Aspekt, der in den meisten Ländern wohl niemanden hinterm Ofen hervorlocken würde: Die Steuerpolitik.
Das Steuersystem der Regierung Orbán ist eines der einfachsten in Europa. Eine extrem niedrge 15 Prozent Flatrate-Einkommensteuer, eine extrem niedrige Körperschaftssteuer (9%), dafür hohe Mehrwertsteuern (27%, außer für bestimmte Produkte wie Bücher und Grundlebensmittel). Gar keine Einkommensteuern zahlen Arbeitnehmer unter 25 Jahren und Mütter von mindestens drei Kindern (bald auch Mütter von zwei Kindern). Das ist eines der menschen- und wirtschaftsfreundlichsten Steuersysteme in der EU.
Nun entbrannte fassungslose Aufregung, als das Nachrichtenportal Index.hu behauptete, in Besitz eines Arbeitsdokuments der wirtschaftspolitischen Ratgeber von Tisza-Chef Péter Magyar zu sein, worin mit Hinblick auf angeblich leere Staatskassen empfohlen wurde, im Falle eines Wahlsieges das Steuersystem radikal zu reformieren, um die Kassen zu füllen. Vorab: Nichts belegt, dass das Dokument echt wäre.
Statt einer Flatrate, so steht auf den zwei Blättern, solle es progressive Steuern geben: 15% (Mindestlohn bis Einkommen von umgerechnet etwa 1100 Euro), dann 22%, und ab umgerechnet 3600 Euro im Monat 33%. Dazu sollten die Steuervergünstigungen für Mütter und Familien „überprüft” werden.
Gleich darauf stellte jemand ein Video ins Netz, auf dem Péter Magyars Wirtschaftsexperte Áron Dálnoki mit Zoltán Tarr zu sehen ist, Péter Magyars rechte Hand und EU-Abgeordneter. Zunächst erschien eine stark redigierte Version, in der Dálnoki auf einem regionalen Bürgerforum die Teilnehmer fragt, ob sie für progressive Steuern oder Flatrate seien – 80% für progressive Steuern, meldet er. Danach kommt Tarr mit politisch selbstmörderischen Formulierungen: Man könne „jetzt nicht darüber reden”, sonst werde man „bei den Wahlen scheitern”, überhaupt gebe es vieles, worüber man nicht reden könne, erst müsse man „die Wahlen gewinnen”. Tarr: „Also erst die Wahlen gewinnen, danach geht alles”.
Nun ist es so, dass die EU – auch die EVP, deren Mitglied die Tisza-Partei ist – schon seit langem Ungarn „empfiehlt”, progressive Einkommenssteuern und höhere Körperschaftssteuern einzuführen. Klar – denn das ungarische System ist sowohl für Unternehmen als auch für die Bürger vorteilhafter als irgendwo sonst in Westeuropa. Es ist also ein Wettbewerbsvorteil, bzw. umgekehrt: das deutsche System ist ein Wettbewerbsnachteil.
Tisza wiederum hat versprochen, man werde die seit Jahren blockierten „EU-Gelder nach Hause bringen”, was den Verdacht nahelegt, dass Tisza alle EU-Forderungen erfüllen würde, wenn die Partei an die Macht käme.
Im Wahlkampf sagten die Tisza-Köpfe bislang wenig Inhaltliches, zur Steuerpolitik aber immerhin, dass sie die Einkommensteuern senken wollen auf neun Prozent, nicht steigern. Das ist, nebenbei gesagt, ein alter Orbán-Vorschlag, der aber bislang nie umgesetzt werden konnte.
Dementsprechend waren die Index-Geschichte und das Video ein Wahlkampfdesaster: Wenn die Bevölkerung glaubt, dass Tisza nicht etwa sein Wahlversprechen umsetzen, sondern – wie Friedrich Merz in Deutschland – das genaue Gegenteil tun würde, also Steuern anheben statt sie zu senken, dann könnte das wirklich – wie Tarr im Video sagt – zur Wahlniederlage führen.
Oppositionsfreundliche Medien versuchten zu retten, was zu retten war: Telex.hu veröffentliche einen Artikel, der aufführte, dass progressive Steuern fast Standard sind in Westeuropa, und brachte auch eine ungeschnittene Version des ursprünglich stark verkürzten Videos. Daraus geht immerhin hervor, dass weder Dálnoki noch Tarr von 22% oder 33% sprechen, nur von „progressiven” Steuern. Es wird allerdings auch klar, dass Tarr, immerhin ein führender Mann der Partei, so wirr redet, dass man kaum einem Satz logisch folgen kann.
Die entscheidenden 20 Sekunden sind aber in beiden Versionen ungeschnitten zu sehen: Tarr sagt, dass man über gewisse Dinge nicht sprechen dürfe, dass man erst die Umstände dafür schaffen müsse, und zwar dadurch, dass man die Wahlen gewinnt. Erst danach „geht alles”.
Das ist natürlich ein kommunikativer Mega-GAU, schon allein deswegen, weil sich ein führender Kopf der Oppositionspartei als absolut ungeeigneter Amateur erweist. Die Regierungspartei verlor keine Zeit, die Panne voll auszuschlachten. Aufgeschlüsselt nach Berufen präsentierte sie, dass vier Millionen Ungarn weniger verdienen würden, wenn Tisza die Wahlen gewinnt.
Im ewigen „Meme”-Wettbewerb in den Sozialen Medien lief es prächtig für Fidesz, und Orbán selbst teilte ein vernichtendes Video.
Péter Magyar, der wohl mal wieder fassungslos war ob der Inkompetenz seiner Leute – er hat seine MEPs in einem Tonmitschnitt „hirntot” genannt – reagierte mit einem harten Dementi: Tisza plane keine Steuererhöhungen, sondern Steuersenkungen.
Außerdem kündigte er an, falls man die Wahlen gewinne, werden man Gefängnisstrafen vorsehen für Journalisten, die auch dann „Unwahrheiten” verbreiten, wenn die Betroffenen die Behauptungen dementieren. Und – das war immerhin ein Gewinn für den öffentlichen Diskurs – er veröffentlichte fast gezwungenermaßen sein „Steuerprogramm”. Ob es eine rasche Improvisation war, ob Tisza vorher tatsächlich Steuererhöhungen plante und nun schnell alles umschrieb, oder ob dies die originellen Tisza-Pläne waren – man weiss es nicht.
Die Pläne weichen aber auf jeden Fall von dem Wahlkampfversprechen, die Einkommenssteuer durchgehend auf neun Prozent zu senken, ab. Jetzt heißt es nur noch, Mindesteinkommen würden mit neun Prozent besteuert. Ansonsten bliebe für alle anderen die Orbán-Einkommenssteuer von 15 Prozent. Als Trostpflaster fügte er eine „Vermögenssteuer” von einem Prozent hinzu für Vermögen über fünf Milliarden HUF (rund 2,5 Millionen Euro).
Magyars Problem wird dadurch nicht geringer, dass nun überall in den sozialen Medien Tisza-Anhänger gegen die Flatrate-Steuer zu Felde ziehen. Es wirkt ein wenig so, als sei doch etwas daran, dass sie progressive Steuern wollen.
Und wer Tarr genau zugehört hat, der mag den Verdacht nicht los werden, dass Magyar nach gewonnenen Wahlen doch noch Friedrich Merz nachahmen könnte: Was kümmert mich mein Wahlversprechen von gestern?