„Unser 7. Oktober“ – wie Syriens Islamisten das Chaos nutzen

vor 9 Tagen

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Bildquelle: Apollo News

„Das ist unser 7. Oktober“, so beschreiben Angehörige der drusischen Minderheit gegenüber dem israelischen Portal JNS, was mit ihren Glaubensbrüdern in Syrien passiert. Seit gut einer Woche kommt es im Süden Syriens, wo viele der Drusen, einer arabischsprachigen religiösen Minderheit im Nahen Osten, leben, nicht nur zu heftigen Kämpfen, sondern auch zu Massakern an der Zivilbevölkerung.

Verübt ganz offensichtlich von islamistischen Milizen, gerade auch solchen, die eigentlich der neuen Regierung in Damaskus unterstehen. Inzwischen ist die Rede von über 1.000 Toten, davon offenbar mindestens ein Drittel Zivilisten. In den sozialen Medien kursieren unzählige Videos von den Gewalttaten an gefangenen Drusen.

Ganz offensichtlich sahen einige die instabile, fast schon gesetzeslose Lage im Land als Chance und Ausrede, um Massaker an der eigentlich relativ zurückgezogenen Minderheit zu begehen. Alles begann vermeintlich mit einem Raub auf einer Landstraße: Ohne funktionierenden Staat im Land machten drusische Milizen die Verdächtigen dingfest, was wiederum Kämpfer von muslimischen Beduinen-Stämmen auf den Plan rief – und schließlich Truppen der syrischen Regierung.

Die sollten staatliche Autorität herstellen und Kämpfe beenden – so jedenfalls die offizielle Begründung. Stattdessen schlugen sie sich offenbar auf die Seite der anti-drusischen Kämpfer und stiegen erst so richtig darin ein, Massaker an der Minderheit zu begehen. Klar: Denn diese Truppen des syrischen Innen- und Verteidigungsministeriums würde wohl kaum jemand als wirkliche Polizei oder Militär bezeichnen.

Man erinnere sich: Die bisherige syrische Regierung, das Assad-Regime (das selbst seinen eigenen Teil an Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung beging) fiel im Herbst 2024 im Rekordtempo innerhalb weniger Wochen. Die Strukturen und Behörden, gerade bewaffnete, des Assad-Staates lösten sich größtenteils auf. Die Rebellen, die seit gut einem Jahrzehnt im Land kämpften, waren auf einmal an der Macht – und die gab es dabei nicht als die eine organisierte Kraft, sondern nur in Form unzähliger Splittergruppen. An ihre Spitze setzte sich die bisher islamistische HTS-Miliz, der es im Chaos gelang, ihren Anführer al-Sharaa (auch bekannt als al-Jolani) als Übergangspräsidenten in Damaskus zu installieren.

Nach und nach begann seine Regierung, nun diverse Milizen in ihre Strukturen zu integrieren. Denn im Dauerbürgerkriegsland Syrien kämpfte nicht nur die Opposition gegen die Regierung, sondern Islamisten gegen die Regierung, Islamisten gegen ethnische Minderheiten wie Kurden und gar Islamisten gegen Islamisten (al-Qaida-Anhänger gegen IS-Anhänger). Mittendrin dann auch noch amerikanische Einheiten im Kampf gegen den IS an der Seite der Kurden, im Norden dann türkische Truppen im Kampf gegen Kurden und eine russische Basis im Westen, die nach Assads Sturz das Land floh.

Einen wirklichen Staat hat al-Sharaas Übergangsregierung also noch längst nicht, auch wenn er dank Kontrolle über die Hauptstadt international so auftritt. Ihm treue Milizen kontrollieren einige Schlüsselteile des Landes, aber an vielen Orten verhandelt man noch, wie und ob lokale Kämpfer, Stämme und Behörden sich den neuen Machthabern in Damaskus unterordnen. Viele von denen, gerade die vielen Minderheiten in Syrien – seien es Kurden, Alawiten oder eben Drusen – fragen sich zu Recht, ob die neue Regierung sie schützen wird oder ob man sich gerade Islamisten in Regierungsuniform ausliefert.

Letzteres war jetzt die Erfahrung der Drusen in Süd-Syrien. Und Grund für den nächsten ausländischen Akteur zu intervenieren war: Nämlich Israel. Das blickte nach Assads Fall mit Skepsis auf die neuen vermeintlich nicht-mehr-islamistischen Milizen, die die Macht übernahmen, und flog daher schon einige Militärschläge gegen ehemalige Einrichtungen der syrischen Armee, um zu verhindern, dass zu gefährliche Waffensysteme in die Hände von islamischen Fundamentalisten kommen. Zudem weitete man seine Präsenz über die Golan-Höhen einige Kilometer weit in Syrien aus und errichtete dort eine Pufferzone, um Angriffe auf Israel frühzeitig abwehren zu können.

Die Intervention jetzt hatte aber tatsächlich wenig mit einer direkten Bedrohung für Israel zu tun, sondern vielmehr mit einer Art Waffenbruderschaft mit den Drusen. Als Volk ohne Staat, wie die Kurden, leben die Drusen verteilt in der Region, sowohl in Syrien, Libanon als auch in Israel selbst. Anders als nicht wenige Araber in Israel, die den jüdischen Staat eher mit Skepsis betrachten, auch wenn sie selbst Staatsbürger sind, gehören dort die Drusen zu den größten Verfechtern des Staats Israels, abgesehen von der jüdischen Bevölkerung selbst. Sie dienen etwa oft überproportional in den israelischen Streitkräften, inklusive israelischer Eliteeinheiten. Viele Drusen und Juden in Israel sehen sich gegenseitig als Verbündete und Brüder-Völker.

Und genau das macht an der Grenze nicht halt, wie die aktuelle Situation zeigte. Israels Regierung sah sich aufgrund dieses Bundes der beiden Gruppen fast schon gezwungen zu handeln – auch aus innenpolitischen Gründen, denn Proteste israelischer Drusen forderten die Unterstützung jetzt ein. Mit Luftangriffen intervenierte das israelische Militär gegen al-Sharaas Regierungstruppen.

Was folgte, war dann ein brüchiger Waffenstillstand, bei dem es seitdem immer wieder zu aufflammenden Kämpfen und offenbar weiteren Truppenbewegungen regierungsnaher Milizen in das Gebiet kam. Gräueltaten gegen die drusische Zivilbevölkerung reißen mancherorts nicht ab. Die Lage bleibt weiterhin unübersichtlich.

Klar ist für viele Drusen nur: Auf syrische „Regierungstruppen“ ist kein Verlass – im Gegenteil, sie sind im Zweifel jene Kämpfer, die massakrierend durch drusische Dörfer ziehen. Ob es dafür den einen Befehl von oben aus Damaskus gibt, ist weiter offen: Selbst wenn al-Sharaas Regierung die Massaker ihrer Truppen nicht anordnet, so muss sie aber von den Gräueltaten wissen und sie damit zumindest billigend in Kauf nehmen.

Aktuell buhlt seine Regierung geradezu um internationale Anerkennung – gelegen kommen solche Massaker daher nicht, gerade wo er doch sein Islamisten-Image ablegen will. So scheint es jedenfalls auf den ersten Blick. Auf der anderen Seite ist die aktuelle Situation für viele islamistische Extremisten, die jetzt Syrien von Minderheiten säubern wollen, auch eine Gelegenheit. Denn vielerorts herrscht eben noch gar keine staatliche Kontrolle, sondern Chaos oder bestenfalls lokal autonom beherrschte Gebiete. Und die Regierungstruppen sind primär eine lose Ansammlung diverser Milizen.

Hier schaut keiner hin – und wenn Islamisten im Regierungsbündnis Gräueltaten begehen, gibt es niemanden, der eingreift. Zumindest aus Syrien selbst, andere Länder wie Israel dagegen durchaus. Zugleich kann die Übergangsregierung in Damaskus so einfacher Verantwortung von sich schieben: Sie versuche ja nur Herr der Lage zu werden, was Milizen, selbst regierungsnahe, vor Ort machen, das will man dann erst ermitteln. Im undurchsichtigen Chaos der Halbstaatlichkeit im Land werden so Massaker möglich. Und rechtfertigen erst recht aus Sicht al-Sharaas mehr Regierungskontrolle über entlegene Minderheitsgebiete.

Makaber gesagt, könnte man meinen: Seine Islamisten-Verbündeten schlagen so zwei Fliegen mit einer Klappe, einerseits nutzt man die chaotische Übergangszeit für ethnische und religiöse Säuberungen, andererseits rechtfertigt die Gewalt mehr Kontrolle der Zentralregierung über bisher autonom regierte Provinzen und Gebiete.

Aber so einfach macht es Israel seinen Islamisten-Milizen eben nicht, wie sich jetzt zeigte. Am Ende könnte das Ganze auch darin enden, dass sich eben jene von Minderheiten bewohnten Gebiete dauerhaft einer zentralen Kontrolle entziehen – womöglich unterstützt von außen, wie durch Israel, könnten so lokal verwaltete Pufferzonen in Drusen- und Kurdengebieten entstehen, über die die al-Sharaa-Regierung dann keinerlei Kontrolle mehr hat.

Offensichtlich ist jetzt vor allem eins: Vorbei ist der Konflikt in Syrien bei weitem nicht. Und von wirklich entwickelten staatlichen Strukturen kann man längst noch nicht reden. Was nun erstmal folgt, ist weitere Gewalt, mit nicht-muslimischen und nicht-arabischen Minderheiten oft als Opfer brutaler Verbrechen.

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