
Es bleibt festzuhalten, dass der Präsident der Europäischen Kommission nicht demokratisch legitimiert ist, was in der ursprünglichen Funktion der Kommission als Hüterin der Verträge auch nicht notwendig war. Jetzt aber, wo die Kommission unter ihrem früheren Präsidenten Juncker bereits und verstärkt unter ihrer gegenwärtigen Präsidentin Ursula von der Leyen sich anmaßt, eine Art europäischer Überregierung zu sein, versucht man, den Mangel an Legitimation durch hohles Pathos und Dirigismus zu kompensieren. Das, was „Europa“ genannt wird oder sich selbst „Europa“ nennt, ist nicht identisch mit dem realen Europa, sondern allenfalls die Chiffre für die Durchsetzung der Postdemokratie und der Herrschaft dysfunktionaler Eliten, die sich nur an der Macht halten können durch das Einfrieren demokratischer Prozesse und durch die Verteidigung der Deutungs- und Informationshoheit als Indoktrinationsmechanismus.
Insofern ist ein Blick auf die Rede, die Ursula von der Leyen vor dem Europaparlament in Straßburg am 10. September 2025 gehalten hat, geboten. Der absolute Herrschaftswillen der Kommission und ihrer Präsidentin kommt in dieser Rede, in ihrem hohlen Pathos und in ihrer Anmaßung, in jedem ihrer imperativen Sätze zum Ausdruck. Linguistisch existiert kein Zweifel, am 10. September sprach eine Person vor dem Europäischen Parlament zur Lage der Union 2025, die sich für die Herrscherin Europas hält. Der Universalismus, der hier zum Ausdruck kam, ist erschreckend und eine Bedrohung, weil die wahre Gestalt Europas, Europas Stärke, wie die Geschichte lehrt, nicht im Universalismus, nicht im Zentralismus, sondern im Föderalismus liegt. Das Programm des Niedergangs Europas firmiert unter der Bezeichnung ever close union.
Es hat keinen Sinn, ihr vor Augen zu führen, dass alle Versuche in Europa, eine universelle Herrschaft zu errichten, gescheitert sind, gescheitert wie das mittelalterliche Papsttum oder das Kaisertum. Die wahre Stärke Europas, die in der Eigenständigkeit und Vielfalt seiner Nationen besteht, hat sie in ihrer bürokratischen Vorstellung von Politik wohl nie verstanden, wie ihr auch die Empfindung für den Zauber der Demokratie meines Erachtens fehlt. Historisch ging und gegenwärtig und zukünftig geht die größte Gefahr für Europa nicht von den Russen, nicht von den Chinesen, auch nicht vom Mann im Mond oder der Frau von der Venus oder dem Diversen im Saturnmond Daphnis, sondern von „Europa“ selbst, von Europas dysfunktionalen Eliten aus, von der Versammlung im Spiegelsaal von Neu-Versailles, in der man den Fenstern den Rücken zudreht, nur um sich besser bespiegeln zu können.
Das Markenzeichen der dysfunktionalen Eliten ist der Solipsismus. Von der Leyen bringt es doch tatsächlich fertig, auf der Basis des 1. Signalsystems zu kommunizieren, wenn sie die Binse als Analyse verkauft: „Die Welt von heute ist gnadenlos.“ Es dürfte von der Leyen nicht aufgefallen sein, dass nicht nur die Welt von heute: „Gnadenlos“ war die Welt schon immer und wird sie auch immer bleiben, wie auch immer den Letzten die Hunde beißen werden. Ach, herrje, für diese Aussage hat Ursula von der Leyen „lange und gründlich … nachgedacht“, darüber, ob sie diese Rede zur Lage der Union mit einer so „schonungslosen Aussage“ beginnen soll. Rhetorik für Anfänger.
Wenn sie uns mitteilt, dass Europa, also die Brüssler Bürokratie, „kämpft“ für „einen unversehrten Kontinent in Frieden“, „für ein freies und unabhängiges Europa, einen Kampf für unsere Werte und unsere Demokratien, einen Kampf für unsere Freiheit und dafür, dass wir selbst über unser Schicksal bestimmen können“, einen Kampf „um unsere Zukunft“, dann stellt sich die Frage, wie sich die Brüssler Oligarchie Freiheit, Demokratie, Zukunft vorstellen, um welche Werte es geht und wer in diesem Zusammenhang „wir“ ist. Man gewinnt den Eindruck, dass von der Leyens Redenschreiber sich gründlich in der Nachahmung des Pathos in der Verfilmung des „Herrn der Ringe“ verhoben habe. Ursula von der Leyen ist nicht Aragorn und auch nicht Frodo, zumal sie ganz im Banne des Ringes der Macht ist.
Zugrunde geht aber, was sich nicht erneuert, was nicht dynamisch, was leblos ist. Wenn eine Gesellschaft keine Dynamik mehr besitzt, wechselt sie in die Dekadenz. Das wichtigste Dekadenzphänomen findet sich in der Dysfunktionalität der Eliten. Zu den letzten Mitteln, ihre schwindende Herrschaft zu erhalten, zählen die Einschränkung der individuellen Freiheit der Menschen – von der Leyen droht bereits in der Rede mit einer neuen Gesundheitsdiktatur –, die Kontrolle über die Verteilung und Umverteilung und über die Wirtschaft bzw. über die Art des Wirtschaftens, politisch die Spaltung der Gesellschaft (divide et impera) in Gute und Böse sowie die Kontrolle über die Information und die erzwungene Akzeptanz aller des eigenen Herrschaftsanspruchs als Axiom des EU-Staates.
Das Mittel dazu besteht in der Herrschaft, um es mit dem französischen Marxisten Louis Althusser zu sagen, über den „Ideologischen und den Repressiven Staatsapparat“. All das fordert von der Leyen in ihrer Rede. Von der Leyen fordert wie einst die Kommunisten von den Abgeordneten der Volkskammer der DDR von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments „Geschlossenheit“: „Hat Europa den Mut zu diesem Kampf? Haben wir die nötige Geschlossenheit, und spüren wir die Dringlichkeit?“ Und es wird noch schlimmer: „Das muss jede und jeder von uns beantworten – jeder Mitgliedstaat, jede und jeder Abgeordnete, jedes Kommissionsmitglied. Wir alle.“
Niemand muss irgendetwas beantworten! Aber für von der Leyen geht es eigentlich nicht um Geschlossenheit, sondern um Ergebenheitsadressen, um Gefolgschaft: „In meinen Augen ist die Entscheidung klar. Deshalb trete ich heute für Geschlossenheit ein. Geschlossenheit der Mitgliedstaaten untereinander. Geschlossenheit der EU-Institutionen. Geschlossenheit der pro-europäischen demokratischen Kräfte in diesem Haus. Ich stehe bereit – und mit mir das gesamte Kollegium der Kommissionsmitglieder, um dies mit Ihnen gemeinsam zu erreichen. Bereit, die pro-europäische demokratische Mehrheit zu stärken. Denn sie ist es – und nur sie –, die für die Europäerinnen und Europäer liefern kann.“ Es dürfte für Frau von der Leyen etwas enttäuschend gewesen sein, dass an diesem Punkt ihrer Rede die Abgeordneten nicht auf die Knie gefallen sind und gläubig riefen: „Ja, Frau Präsidentin, Ja – und dreimal Ja.“ Später wird sie folgerichtig dafür eintreten, dass das Einstimmigkeitsprinzip fällt.
Für Ursula von der Leyen existieren keine Grenzen mehr als größte Kommissionspräsidentin, die es je gab und möglicherweise je geben wird, weil es nach ihr möglicherweise keine mehr gibt. Hatte Lenin noch den GOELRO-Plan so definiert: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“, verkündet die Chefkommissarin Ursula von der Leyen kurz und bündig: „Egal, was passiert, die Zukunft ist elektrisch.“ Und wenn Europa darüber untergeht, egal. Denn: „Die Zukunft der Autos muss in Europa geschrieben – und die Autos der Zukunft müssen in Europa hergestellt werden.“ Damit ist die Chefin der Zentralen Brüssler Planungskommission noch längst nicht am Ende.
Hatte Habecks Werk und von der Leyens Beitrag die deutsche Stahlindustrie, die deutsche Chemieindustrie in die Schieflage gebracht, droht von der Leyen nun: „Europa muss seine Industrie schützen. Sie tut, was für die Dekarbonisierung getan werden muss. Und dafür sollte sie belohnt werden, und wir sollten Anreize schaffen. Andernfalls riskieren wir, beim Stahl für unsere Autoindustrie oder bei den Düngemitteln für unsere Landwirtschaft auf Importe angewiesen zu sein.“ Es erstaunt nicht, dass ihre Mittel dafür sozialistisch, staatsdirigistisch in einem Mix aus Subventionen und Interventionen bestehen. Es geht vor allem um Geld, das von der Leyen von den Mitgliedsländern haben will, um es dann nach Gusto verteilen zu können. Es geht um einen „Deal für eine saubere Industrie“, um ein – Northvolt lässt grüßen – Batterie-Booster-Paket mit 1,8 Milliarden Euro, um einen Industrial Accelerator Act. Regulierung und Staatswirtschaft, wo man hinschaut.
Schämen sollte sich von der Leyen für den Satz: „Wir werden unsere bilaterale Unterstützung für Israel aussetzen. Wir werden alle Zahlungen in diesen Gebieten stoppen – ohne dass sich dies auf unsere Arbeit mit der israelischen Zivilgesellschaft oder Yad Vashem auswirkt.“ Unter „israelischer Zivilgesellschaft“ darf man dann wohl von der Leyens Verbündete sehen, wie Tusk in Polen oder Péter Magyar in Ungarn, die „Proeuropäer“, was aber im Klartext nur Brüssels Leute gegen ihre Landsleute meint.
So geschmacklos wie instinktlos ist es, wenn Ursula von der Leyen, die niemand auf den Straßen Leipzigs, Berlins, Prags, die niemand im ungarischen Sopron, nicht in Bukarest 1989 gesehen hat, von der „nächsten Wiedervereinigung Europas“ faselt. Wann war denn Europa jemals vereinigt? Ursula von der Leyen wird es nicht wissen, denn auf dem Ponyhof findet kein Geschichtsunterricht statt, aber Wiedervereinigung meint allein die Vereinigung Deutschlands, nachdem im Ergebnis des II. Weltkrieges Deutschland geteilt wurde. Den Ostdeutschen wurden die Freiheit, die Freizügigkeit durch den sogenannten Antifaschistischen Schutzwall, die Mauer, wurden Demokratie und die Möglichkeit eines Vermögensaufbaus vorenthalten, was sich bis heute bemerkbar macht. Doch dass es zu einer Wiedervereinigung kam, ist den Polen, den Ungarn und natürlich den Ostdeutschen und auch Michail Gorbatschow und den Russen, und den Amerikanern zu verdanken, während Franzosen und Engländer den Prozess zu verhindern suchten. Deutschland hat und Deutschland zahlt einen hohen Preis dafür, der Euro heißt.
Um ihre Herrschaft zu festigen, darf es natürlich keine freie Presse mehr geben, denn die postdemokratischen Eliten sollen künftig entscheiden, was Information und was Des-Information ist, was die Bürger wissen dürfen, und vor allem, was sie glauben sollen, und, was verboten werden muss. Auch wenn die üblichen Phrasen, von denen jeweils das Gegenteil richtig ist, verbrämen sollen, wird das neue Zensur-Regime deutlich, das von der Leyen verwirklichen will: „Wir müssen also mehr tun, um unsere Medien und unsere unabhängige Presse zu schützen. Aus diesem Grund werden wir ein neues Programm für Medienresilienz auf den Weg bringen – zur Unterstützung des unabhängigen Journalismus und der Medienkompetenz. Aber wir müssen auch investieren, um einige der Ursachen dieses Trends anzugehen. Deshalb haben wir vorgeschlagen, die Mittel für die Medien im nächsten Haushalt deutlich aufzustocken. Wir müssen auch die private Beteiligung ermöglichen. Wir werden daher unsere Instrumente nutzen, um unabhängige und lokale Medien zu unterstützen.“
Wie unabhängig sind Medien, die von der EU finanziert werden? Wie frei? Fällt der Kommissionspräsidentin der Widerspruch nicht auf, kennt sie die alte Medien-Wahrheit nicht, die da lautet: „Wes Brot ich ess, des Lied sing ich“? Oder kennt sie sie nur zu gut?
Es wird Zeit, dass sich das wahre Europa auf seine Kraft, auf seine Möglichkeiten besinnt, die im Europa der Vaterländer, in einer großen Freihandelszone freier Nationen besteht. Nicht in einer Brüssler Oligarchie. Der Weg, den von der Leyen in ihrer hyperpathetischen Rede proklamiert, führt in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit. Europa ist jetzt schon ein Statist auf der Weltbühne und Deutschland nur noch die „Lustige Person“.