
Es war eine seltsame Mutprobe, die Schüler in Spokane, Washington, ihrem Spanischlehrer Matthew Mastronardi abverlangten: Er solle eine Passage aus „To kill a mockingbird“ von Harper Lee vorlesen. Für die Schüler offenbar eine verwegene Forderung. Denn in der betreffenden Passage kommt das Wort „nigger“ vor: Die Schüler hatten zuvor darüber gesprochen, dass sie dieses Wort nicht lesen dürften.
Eine Diskussion, die der Lehrer mitbekam, und in die er sich einschaltete, mit dem Ansinnen, seinen Schülern zu zeigen, dass sie Inhalte wiedergeben können und dürfen, ohne sie sich zu eigen zu machen. Das ist eine Schlüsselkompetenz, ohne die Erkenntnisgewinn, Lernen und Lehren nicht möglich sind, und ohne die die Realität nicht abgebildet werden kann.
Lehrer sein, nicht nur, während man Unterrichtsstoff vermittelt, sondern in seinem ganzen Auftreten: Das ist vorbildlich. Zumal angesichts eines Buches, das einfordert, angesichts von Unrecht nicht stumm zu bleiben. Mastronardi erhob tatsächlich seine Stimme: Um zu zeigen, dass man Denk- und Sprechverboten keine Macht zuerkennen sollte. Er nahm das Buch und las die Passage laut vor. „Calpurnia says that‘s nigger-talk.“, so hört man es deutlich auf der Aufahme – eine Schülerin hatte den Vorgang heimlich mitgefilmt.
Dies wurde Mastronardi zum Verhängnis. Das Video kursierte in der Schülerschaft, und fand seinen Weg bis zur Schulleitung. Die verwarnte den jungen Lehrer zunächst mündlich, das Ergebnis der Unterredung wurde ihm auch schriftlich zugestellt: Er habe sich unprofessioneller Kommunikation mit den Schülern schuldig gemacht; habe nicht in höflicher bzw. anständiger Weise kommuniziert („You failed to communicate in a civil manner (…)“), und habe durch die Verletzung professioneller Grenzen („boundaries“) keine dem Lernen förderliche Atmosphäre aufrechterhalten.
Diese heftigen Anschuldigungen seitens der Schulleitung folgten den Versicherungen seitens Mastronardis, dass er im Sinne der Schüler so gehandelt habe: Er habe nicht für Unruhe sorgen wolle, sondern wertvolle Einsichten vermitteln wollen, indem er den „freien Austausch von Ideen“ propagiert habe. „Kindern beizubringen, dass sie mit einem Text ehrlich umgehen können; es sollten keine Einschüchterungsversuche unternommen werden, um dies zu verhindern. Ich wurde gebeten, es zu lesen, also habe ich es getan.“, hatte Mastronardi sich zu verteidigen versucht. Vergeblich: In einer weiteren Unterredung wurde er aufgefordert, zu kündigen, ansonsten würde sein Vertrag nicht verlängert.
Anfang Mai erreichte ihn dann die Kündigung. Als Grund wurde angegeben, dass Zweifel darüber bestünden, dass er ein „positives Vorbild“ für die Schüler darstelle, er habe „schlechtes Urteilsvermögen“ im Umgang mit den Schülern an den Tag gelegt. Zudem hätten sich Eltern über Mastronardi beschwert hätten.
Nachfragen Mastronardis ergaben jedoch, dass letztere Anschuldigung nicht der Wahrheit entspricht: Lediglich auf „Hörensagen“ habe sich die Schulleitung an dieser Stelle verlassen, gab diese zu, konkrete Anschuldigungen seitens der Eltern gab es nicht.
„Wer die Nachtigall stört“ ist ein Klassiker der US-amerikanischen Literatur und ein Plädoyer gegen Rassenhass. In den USA haben ganze Schülergenerationen anhand der Geschichte um den aufrechten Anwalt Atticus Finch gelernt, was es bedeutet, für seine Überzeugungen einzustehen. Auch im Englischunterricht in Deutschland dient das Buch häufig als Lektüre, um sich mit der Segregation in den USA auseinanderzusetzen und um Fragen rund um Recht und Gerechtigkeit zu diskutieren. Dass ausgerechnet dieser Roman als Vorwand dient, um einen Lehrer loszuwerden, der genau für jene Werte einsteht, die Harper Lee vermittelt, ist grotesk und absurd.
Das Lachen muss einem allerdings im Halse stecken bleiben. Denn die Ideologie, die Intoleranz im Namen der Toleranz propagiert, ist eben nicht nur ein Hirngespinst, sie zeigt reale Folgen: Eine vor Angst gelähmte Schülerschaft, die sich nicht traut, Worte vorzulesen; eine Familie deren Existenzgrundlage erbarmungslos zerstört wird.
Während die Schulleitung selbst vor Verleumdungen nicht zurückschreckt, um einen Lehrer loszuwerden, der nichts anderes getan hat, als zu lehren, unterstützen die Schüler ihren Lehrer, den sie in Bedrängnis gebracht haben. Sie haben eine Petition gestartet, um zu erwirken, dass die Kündigung rückgängig gemacht wird. In der Petition heißt es: „Wir fordern die Verwaltungsbehörde der West Valley High School (…) nachdrücklich auf, diese Vorgehensweise zu überdenken. Diese Entscheidung schadet nicht nur der Karriere eines angesehenen Lehrers, sondern mindert auch die Vielfalt der Bildungserfahrung, die den Schülern geboten wird, indem sie den Zugang zu wichtiger, wenn auch herausfordernder Literatur einschränkt.“
Zumindest bei den Schülern scheint die Lektion also angekommen zu sein. Das erfährt auch Mastronardi: „Die überwiegende Mehrheit der Schüler unterstützt mich. Selbst Schüler, die nicht in meiner Klasse sind, kommen zu mir und sagen mir, dass sie das für unfair halten. Die Schülerin, die mich gefilmt hat, hat sich entschuldigt, und ich habe ihr gesagt: ‚Keine Sorge, ich bin nicht böse. Ich vertraue darauf, dass Gott alles lenkt, auch solche Dinge.‘“, so Mastronardi gegenüber TE. Er fährt fort: „Ich wurde in vielen E-Mails der Schüler an die Schulleitung ins CC gesetzt, in denen sie darum bitten, mich wieder einzustellen.“
Zu seiner Haltung steht er: „Ich bin der Meinung, dass ich nichts Falsches getan habe. (…) Es macht mir auch Mut, dass die Schüler dies nutzen und durch all das wirklich etwas lernen. Sie denken kritisch und versuchen, ihr Wissen zur Problemlösung anzuwenden. (…) Ich glaube, dass gerade ein kultureller Wandel stattfindet. Menschen auf der ganzen Welt verlieren das Vertrauen, dass sie wirklich ihre Meinung frei äußern können. Eine Folge davon ist, dass Menschen nicht direkt zensiert werden müssen, sondern sich selbst zensieren, was noch schlimmer ist. Ich hoffe, dass die Menschen diesen Moment nutzen, um sich die freie Meinungsäußerung zurückzuholen, denn das ist ein natürliches Recht von Gott, und wir müssen es schützen. Ich bin niemand Besonderes, aber die freie Meinungsäußerung wird nur von Bürgern geschützt, die bereit sind, sich dafür bis zur Erschöpfung einzusetzen.“
Die Schere im Kopf, die Mastronardi anspricht, und deren Wirkmacht in den Köpfen seiner Schüler er entgegentreten wollte: Sie beschneidet nicht nur den freien Ausdruck und den freien Austausch, sie verzerrt, wie man hier deutlich sieht, auch die Wirklichkeit, und sogar die Geschichte. Harper Lee illustriert mit seiner Wortwahl zeitgenössischen und lokalen Kolorit. Farben, die verloren gehen, wenn es „politisch korrekt“ zugehen muss. Mehr noch: Die Härte der sozialen Ungerechtigkeit, der sich schwarze Bürger ausgesetzt sahen, wir verschleiert, wenn das Schimpfwort verschleiert wird, das die Geringschätzung und die Verachtung deutlich macht, die ihnen entgegengebracht wurde.
Und nicht nur aus dieser Perspektive heraus ist es schier unglaublich, dass bestimmte Worte unsagbar geworden sein sollen. Es handelt sich um ein Wort, das nicht einmal generell geächtet ist: Es kommt in zahlreichen afro-amerikanischen Rap-Songs vor, als Selbstbezeichnung und Zuschreibung, im Rahmen äußerst fragwürdiger Texte. Nur, weil er nicht schwarz ist, nur weil das Wort nicht in einem vulgären popkulturellen Kontext getätigt wurde, wird Matthew Mastronardi nun bestraft, um Sprachregelungen aufrecht zu erhalten, die ihrerseits schon längst eine neue Variante von Segregation anzeigen.
Eine kleine Chance besteht noch: Am 25. Juni soll es eine letzte Anhörung geben, anhand derer die Entscheidung der Schule revidiert werden könnte. Für die USA als „land of the free“ würde es durchaus keinen geringen Gesichtsverlust bedeuten, wenn ausgerechnet dort freie Rede bereits da eingeschränkt würde, wo sie nicht einmal das Tätigen, sondern lediglich das Zitieren einer Aussage betrifft.
Als JD Vance die Europäer über deren fragwürdiges Verhältnis zu den Freiheitsrechten belehrte, hatte er mit seinen Einwänden vollkommen recht. Allerdings darf man nicht vergessen, dass der woke Furor maßgeblich von der angelsächsischen Welt aus nach Europa überschwappte.
„Wir wollen ein sinnvolles, friedliches Leben führen. Aber wir dürfen keine Angst haben, die Wahrheit zu sagen, nur weil sie uns unangenehm ist.“, sagt Matthew Mastronardi. Es steht zu hoffen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt – und dass er nicht wie Atticus Finch in „To kill a mockingbird“ am Ende doch ideologischer Verblendung gegenübersteht, die er nicht überwinden kann.