Verfall einer europäischen Idee

vor 15 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

In Aachen gibt es in jedem Jahr traditionell drei Veranstaltungen, die das Herz jedes Eventmanagers höherschlagen lassen. Den Anfang macht die Verleihung eines Karnevalsordens an bekannte Politiker, die sich dort unter dem Titel „Wider den tierischen Ernst“ in der Disziplin Satire versuchen dürfen. Dem folgt die Verleihung des Karlspreise für Verdienste um den europäischen Gedanken. Schließlich gibt es noch das CHIO, wo sich Pferde, Reiter und Zuschauer zu einem Volksfest mit Ansprüchen an die gehobene Lebensart treffen. Der Karnevalspreis und der Karlspreis wurden nicht nur Anfang der 1950er Jahre ins Leben gerufen, sondern zeichnen sich durch das Bemühen aus, möglichst prominente Zeitgenossen in das Rheinland zu locken.

Darüber ist auf der Online-Präsenz der Karlspreis-Organisatoren nichts zu finden. Es ist dem Vergessen anheimgefallen. Dafür liest sich die Liste der bisherigen Preisträger wie das Personenregister im Buch eines Zeithistorikers. Am vergangenen Donnerstag wurde Ursula von der Leyen als Präsidentin der Europäischen Kommission den Karlspreis verliehen. Die parteilose, aber den Grünen nahestehende Oberbürgermeistern der Stadt, Sibylle Keupen, brauchte allein sechs Minuten, um die zahlreich erschienenen Gäste zu begrüßen. Darunter waren Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, und dessen Stellvertreterin, Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne). In Aachen konnten sie sicherlich Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Gather, Vorsitzende des Kuratoriums der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung treffen. Sie könnten sich über das Drama um ThyssenKrupp unterhalten haben, der vor seiner Zerschlagung steht. Denn weder auf der Seite der Staatskanzlei des Ministerpräsidenten, noch auf der des Wirtschaftsministeriums findet sich ein Wort über das wichtigste industriepolitische Thema des Landes. Dafür untersucht das Land die Geschlechterunterschiede im Jurastaatsexamen. Die unter Stahlarbeitern waren nie ein Thema. Das sind aber die Niederungen des Alltags, die an einem Festakt an Allerheiligen das Wohlbefinden eher stören.

Allerheiligen war der passende kalendarische Rahmen. Im Vorfeld erschienen kritische Kommentare zu dieser Wahl, etwa von Marc Felix Serrao in der Neuen Züriher Zeitung. Zweifellos kann man anderer Meinung sein, wie Sabrina Fritz in der Tagesschau. „Vielleicht die richtige Frau zur richtigen Zeit“, so ihre Schlussfolgerung. Vielleicht auch nicht, aber darüber erfährt der Leser nichts. Schließlich ist das Wirken der Politikerin mit der special relationship zur früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel davon geprägt, Dokumente über ihre Amtsführung als privat zu deklarieren. Sie löscht sie von ihrem Mobiltelefon, ob das die Berateraffäre als Verteidigungsministerin oder ihre Verhandlungen mit Pfizer-Chef Albert Bourla über den Ankauf von Impfstoffen betrifft. Einen Heiligenschein kann die EU-Kommissionspräsidentin daher nicht beanspruchen, oder vielleicht doch? Das störte den festlichen Rahmen nicht, schließlich hatte von der Leyen mit dem spanischen König Felipe VI und Bundeskanzler Friedrich Merz gleich zwei Laudatoren. Felipes Vater Juan Carlos hatte 1982 den Karlspreis erhalten, musste aber später wegen seines Hobbys Großwildjagd und anderen Skandalen abdanken.

Merz nutzte die Gelegenheit, um in seiner Rede die Preisträgerin auf sein Programm zu verpflichten. Deshalb hätten „wir uns darauf verständigt, etwa den Wirtschaftsraum der Europäischen Union in den kommenden Jahren noch weiter zu vertiefen und zu modernisieren, die Regeln zu vereinfachen und die Bürokratie zurückzubauen. Wir haben uns darauf verständigt, unsere Grenzen gemeinsam besser zu sichern, und wir haben uns darauf verständigt, Europa wehrhafter zu machen.“ Außer den Punkt mit der Wehrhaftigkeit stand nichts davon auf der bisherigen Agenda der Kommissionspräsidentin, deren politische Anpassungsfähigkeit schon immer zu rühmen war. Das war auch das, was die Kollegin Fritz zu ihrem donnernden „vielleicht“ motivierte. Inzwischen hätten „von der Leyen und ihre neue Kommission das Steuer herumgerissen.“ Den Grünen gefiele „das zwar nicht, aber die sind seit der letzten Wahl geschwächt, und mit Donald Trump ist nun eine neue Krise aufgetaucht, um die sich von der Leyen kümmern muss.“

So hat jeder etwas zu tun. Ein Journalismus, der sich angesichts der Wendungen des Zeitgeistes bemühen muss, nicht aus der Kurve zu fliegen. Und eine EU-Kommissionspräsidentin hätte durchaus etwas zu tun, sich etwa mit dem Bericht des EU-Rechnungshofes über die fehlende Transparenz bei NGO-Finanzierung aus EU-Mitteln zu beschäftigen. Aber Ursula von der Leyen kann angesichts der vielen Krisen nicht alles machen. Dafür hat sie in ihrer Dankesrede deutlich gemacht, wie sehr ihr Europa am Herzen liegt. „Unser Europa wurde geschaffen, um den Menschen zu dienen“, so gab der Bundeskanzler die Tonart vor. Was die Kommissionspräsidentin darunter versteht, kommt in den folgenden Worten zum Ausdruck: Es sei die Aufgabe, „unsere Demokratie zu erneuern und zu stärken.“ Uns allen sei bewusst, dass unsere Demokratien angegriffen würden – durch Widersacher von außen, die mit vereinten Kräften vorgingen, „aber auch durch Versuche, sie von innen heraus auszuhöhlen. Wir müssen gegen diese Bedrohungen und Tendenzen ankämpfen.“ Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat in seiner Dankesrede 1997 andere Formulierungen gefunden, die „das Prinzip der offenen Gesellschaft“ herausstellten. Darin finden sich auch selbstkritische Töne, die für heutige Ohren fast schon skandalös klingen. Ursula von der Leyen betrachtet dagegen den Bürger nur noch als potenzielles Sicherheitsrisiko, der sie dazu verpflichtet, „unsere Demokratien vor Angriffen zu schützen, sie zu stärken, sie zu bewahren. Und genau das tun wir.“ Wenn sich Ursula von der Leyen vor der Aufdeckung von Skandalen schützt, ist Europa geschützt, so die Argumentationslogik. Es ist die einer EU-Bürokratie, die sich ohne funktionierende Kontrolle verselbständigt hat. Der kategoriale Unterschied zwischen einer „offenen Gesellschaft“ und einem autoritären Demokratieverständnis wäre vielleicht ein interessantes Thema für Examenskandidaten in Nordrhein-Westfalen.

Das könnte Nathanael Liminski anregen. Er ist die graue Eminenz in der Düsseldorfer Staatskanzlei. Liminski ist zudem Mitglied im Stiftungsrat der Karlspreisgesellschaft. Mit der Auszeichnung an von der Leyen als aktive Kommissionspräsidentin setze das Karlspreiskomitee „ein Signal des Vertrauens in die Institutionen der EU“, so formulierte er es auf X. Als ihr „ehemaliger Redenschreiber“ sage er „mit Recht.“ Europa sei „nicht die Frage, sondern die Antwort auf unsere Zeit.“ Das ist richtig. Es fehlt allerdings an einem Personal, das sich nicht selbst für Europa hält. Insofern ist diese Karlspreisverleihung heute mehr als nur eine „possierliche Nachkriegsgroteske“. Sie dokumentiert den intellektuellen Verfall der europäischen Idee. Churchills Dankesrede sorgte 1956 für „Irritationen“, was der um die Delegitimierung von Adenauers Deutschlandpolitik ganzjährig bemühte Spiegel nicht ohne Schadenfreude kommentierte. Churchill erblickte „keinen Grund, warum das ’neue‘ Rußland sich nicht dem Geiste dieses feierlichen Abkommens (der Nato) anschließen sollte.“ Das blieb immerhin den Gästen an Allerheiligen 2025 erspart.

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