
Nach Ansicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) betreibt Maaßen „demokratiefeindliche Agitation“. Er äußere sich, so das BfV, „diffamierend und herabwürdigend gegenüber der demokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik, ihren Repräsentanten sowie den Parteien und dem Parteiensystem im Allgemeinen. Diese ständigen Verunglimpfungen bewirken in ihrer undifferenzierten Maßlosigkeit, dass das Vertrauen in das demokratische System der Bundesrepublik erheblich unterminiert und von Grund auf erschüttert sowie die Legitimität staatlicher Repräsentanten nicht nur infrage gestellt wird, sondern diese delegitimiert werden.“ Auf diese Weise wolle er das Demokratieprinzip beseitigen.
Dass Maaßen mit seinen Äußerungen das Vertrauen der Bevölkerung in das demokratische System von Grund auf erschüttert hat, konnte ich bisher nicht wahrnehmen. Der gegenwärtig bei vielen Menschen angenommene Vertrauensverlust scheint vielmehr aus der „Brandmauer“-Strategie der etablierten Parteien zu resultieren, nämlich aus der Wahrnehmung der Menschen, dass es ihnen praktisch nicht möglich ist, eine Politik abzuwählen, die sie ablehnen. Die Wahrnehmung dieser Menschen ist, dass es eine Mehrheit gegen die unbegrenzte Einwanderung gibt, gegen das Verbrennerverbot, gegen das Heizungsgesetz, gegen die ruinöse Energiepolitik, aber egal, was sie wählen – die nächste Regierung wird auch unter einem Kanzler Merz wieder links-grün geprägt sein und im Prinzip alles fortsetzen, wogegen die Menschen mit der Abwahl der Ampel gestimmt haben.
Im Übrigen wendet sich die – oft sehr heftige – Polemik Maaßens nicht gegen das Verfassungssystem Deutschlands, sondern gegen die konkrete Politik der Regierung und der Parteien. Er polemisiert gegen den „Ökosozialismus“, gegen „eine kleine fanatische politische Clique, die auch die Medien beherrscht, die hoch ideologisiert, völlig beseelt von der Richtigkeit ihres Handelns sind und die anderen Menschen vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben“. Er spricht von „totalitärem Sozialismus“ und bezeichnet die Vertreter der „neuen Klimareligion“ als „Grüne Khmer“ oder „grüne Taliban“, die Deutschland in einen „ökototalitären Musterstaat“ verwandeln wollten.
Das ist eine teils sehr überzogene Kritik. Aber es ist nicht Kritik an der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes, sondern Kritik an freiheitsfeindlichen Tendenzen in der Politik. Das BfV meint nun, Maaßen stelle die Partei Bündnis 90/Die Grünen mit der chinesischen Kulturrevolution und der Terrorherrschaft der Roten Khmer auf eine Stufe, ziehe so die demokratische Legitimität zumindest der Grünen-Abgeordneten im Bundestag infrage und verharmlose die Menschheitsverbrechen der Roten Khmer und der chinesischen Kulturrevolutionäre.
Aber wer von „Grünen Khmer“ redet, setzt die Grünen nicht mit den Roten Khmer gleich, sondern vergleicht sie. Er macht mit diesem polemischen Begriff auf eine Gemeinsamkeit aufmerksam, die er zu entdecken vermeint, nämlich auf das Sendungsbewusstsein, den Wahrheitsanspruch und den Willen, die eigenen politischen Ziele auch mittels massiver staatsdirigistischer Freiheitseinschränkungen durchzusetzen. Dass Maaßen behaupten wolle, die Grünen hätten – wie die Roten Khmer oder Mao – Millionen von Menschen umgebracht oder planten dies, lässt sich seinen Ausführungen auch bei kritischer Betrachtung nicht entnehmen.
Dass das BfV rhetorische Vergleiche mit totalitären Systemen für eine verfassungsfeindliche Gleichsetzung unserer demokratischen Ordnung mit dem betreffenden totalitären System hält, wenn diese Vergleiche von „rechts“ kommen, ist ständige Verfassungsschutzpraxis. Der Verfassungsschutz setzt regelmäßig rhetorische Vergleiche mit Gleichsetzung gleich, nach dem Muster: Wer sich durch das Denunziationswesen während der Corona-Krise (Anrufe bei der Polizei wegen unerlaubter Kindergeburtstagsfeiern) oder durch die heutigen Meldeportale an das Blockwartsystem der DDR erinnert fühlt, delegitimiert den Verfassungsstaat, weil er die Bundesrepublik mit der DDR gleichsetzt.
Wer, wie Maaßen, die NZZ als „Westfernsehen“ betrachtet oder dem ARD-Magazin „Panorama“ abspricht, „Westfernsehen“ zu sein, setzt nach Ansicht des BfV „die gegenwärtigen Fernsehmedien in der Bundesrepublik Deutschland mit den Fernsehmedien der DDR gleich“. Damit stelle Maaßen „eine freie und verlässliche Berichterstattung in der Bundesrepublik Deutschland in Abrede“. Ob die Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen ausgewogen und verlässlich ist, muss man aber in einer freien Gesellschaft diskutieren können. Die Auffassung, dass in zentralen politischen Fragen – etwa Migrationspolitik, Klimapolitik, Coronapolitik – in den öffentlich-rechtlichen Medien grundsätzliche Gegenpositionen zur Regierungspolitik beziehungsweise zum politisch-medialen Mainstream weitgehend ausgeblendet werden und man nach solchen Positionen beispielsweise in der NZZ oder in Alternativmedien suchen muss, wird nicht nur von Maaßen, sondern auch von Medienwissenschaftlern vertreten.
Es gibt von dieser Kategorie etliche weitere Beispiele im Fall Maaßen. Das BfV behauptet, Vergleiche seien Gleichsetzungen, und konstruiert auf diese Weise eine angebliche Delegitimierung des freiheitlichen Staates, wo Maaßen offensichtlich die Intention verfolgt, den freiheitlichen Staat gegen unfreiheitliche Bestrebungen zu verteidigen.
Dass Maaßen den Verfassungsstaat delegitimieren und nicht verteidigen wolle, kann man mit seinen Äußerungen nicht belegen. Manche von ihnen können, wenn man sie nicht gutwillig betrachtet, dahingehend ausgelegt werden, als wolle er etwa den Grünen die Existenzberechtigung absprechen. Und wenn man das nicht im Sinne eines politischen Werturteils versteht, sondern in dem Sinne, dass sie eigentlich verboten werden müssten, wäre das auch verfassungsschutzrechtlich relevant. Aber wenn man seine Äußerungen auch so auslegen kann, dass lediglich heftige Kritik an der Politik der Grünen geübt werden soll, aber dass Maaßen nicht sagen will, er wolle sie – wenn er könnte – verbieten, dann wären das einfach Beiträge zur politischen Auseinandersetzung und weiter nichts.
Das BfV baut diesem Einwand vor, indem es behauptet: Wenn eine Äußerung mehrdeutig ist und eine der möglichen Bedeutungen verfassungsfeindlich, die andere aber nicht verfassungsfeindlich ist, dann könne sie als Anhaltspunkt für verfassungsfeindliche Bestrebungen verwendet werden. Bei mehrdeutigen Äußerungen unterstellt das BfV regelmäßig, dass der Betreffende einen verfassungsfeindlichen Inhalt zum Ausdruck bringen wollte. Aber so kann man in einem Rechtsstaat keine Beweisführung aufbauen, mit der die Rechtmäßigkeit von Grundrechtseingriffen – und die Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist ein Grundrechtseingriff – begründet werden soll.
Das Bundesverfassungsgericht sieht es genau umgekehrt wie das BfV: Das Grundrecht der Meinungsfreiheit verlange, dass bei der rechtlichen Beurteilung mehrdeutiger Meinungsäußerungen diejenige Auslegung zugrunde zu legen ist, bei welcher der geäußerte Inhalt rechtmäßig ist, sofern nicht diese Auslegungsvariante mit nachvollziehbaren Gründen ausgeschlossen werden kann: „In dubio pro libertate“ – im Zweifel für die Freiheit. Das BfV meint, dieser Grundsatz gelte nicht für den Verfassungsschutz. Das zeigt ein autoritäres Staatsverständnis, das der Inlandsgeheimdienst exklusiv für sich in Anspruch nimmt. Der Staat muss freiheitlich sein. Der Verfassungsschutz, der den freiheitlichen Staat schützen soll, will nach dem gegenteiligen Grundsatz agieren: „In dubio contra libertate“.
Eine Kurzfassung dieses Textes erschien am 8.1.2025 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). – Professor Dr. Dietrich Murswiek war bis zu seiner Emeritierung Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg im Breisgau. Er ist Autor des Buches „Verfassungsschutz und Demokratie“ (2020).
Lesen Sie in den folgenden Tagen den vierten und letzten Teil der Anmerkungen zum Fall Hans-Georg Maaßen.