
Große Aufregung löst fast jeden Juni der Verfassungsschutzbericht aus, den der Innenminister vorstellt. Nicht anders war es auch, als Dobrindt es tat. Er sah dabei in den Erkenntnissen der Behörde keine Grundlage für einen Verbotsantrag gegen die AfD, auch wenn SPD und Grüne das wohl gerne anders hätten. Daneben gab es einige Zahlen zu den Delikten, die allein durch ihre Größe oder Höhe für sich einnahmen. Bei 40 Prozent und mehr sollen die Steigerungen liegen, fast egal übrigens in welchem Feld, ob links- und rechtsextrem, islamisch motiviert oder anderweitig. Kritiker wenden allerdings ein, dass dieser Anstieg nur durch eine Zunahme der Meinungsdelikte zugenommen habe. Und der Staat und seine Behörden haben sich bei deren Verfolgung und Aufzeichnung freilich zuletzt sehr hervorgetan, angefangen mit dem neuen Straftatbestand der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ – ein Passepartout-Begriff für alles und nichts.
Als vergessenes Verfassungsschutz-Objekt in einer Ecke verbleibt regelmäßig der islamische Extremismus, zum einen, weil die Zahlen – auch angesichts und dank der vielen Meinungsdelikte – klein erscheinen, zum anderen wohl aus anderen Gründen, über die man nur mutmaßen kann. Die Gefahr kommt allerdings im Bericht des Verfassungsschutzes vor, und dieses Jahr vielleicht intensiver als in anderen. So ist zumindest der erste Eindruck.
Unter der Überschrift „Islamismus/islamistischer Terrorismus“ gibt der Bericht (ab Seite 200) einen relativ umfassenden Überblick über die terroristischen Aktivitäten und Gefahren der Gegenwart, vor allem natürlich des Berichtsjahrs 2024. Denn das begann, wie der Bericht hervorhebt, mit einer umfassenden Terrordrohung des IS gegen westliche Gesellschaften: „Tötet sie, wo immer ihr sie findet“. Dazu rief der IS auf und hat inzwischen nachgelegt, dass neben Messern auch Kraftfahrzeuge eine praktische Waffe sein könnten. Gemeint sind laut Verfassungsschutz „alle ‚Ungläubigen‘, das heißt alle, auch Muslime, die nicht dem IS folgen“. Am 31. Mai war in Mannheim ein Polizist einem solchen Attentat erlegen, während fünf weitere Personen verletzt wurden, darunter das Hauptziel des Angriffs, der Islamkritiker Michael Stürzenberger. Am 23. August kostete ein weiterer Messerangriff drei Leben in Solingen und zahlreiche Verletzte.
Später heißt es zum Thema der „radikalisierten jihadistischen Minderjährigen“ wiederum: „Religiös-ideologisches Wissen ist allgemein nur sehr gering und fragmentarisch vorhanden, nicht selten werden verschiedene Einflüsse undifferenziert vermischt. Gewaltfaszination spielt dagegen fast immer eine zentrale Rolle.“
Angesichts dieses Vorlaufs ist eine Lücke im Verfassungsschutzbericht besonders besorgniserregend. Sie erscheint aber fast schon als denklogische Notwendigkeit. Es kann eigentlich gar nicht anders sein. So weiß der Verfassungsschutz zwar, oder glaubt doch zu wissen, wie viele Salafisten sich ungefähr in Deutschland aufhalten (es seien 11.000) oder auch wie groß das Personenpotential von Milli Görüs, Muslimbrüdern, Hizb Allah oder Hamas ist. Die angegebenen Anhängerzahlen bewegen sich hier zwischen 550 und 10.000.
Im Bericht heißt es: „Europaweit sind in den letzten Jahren zunehmend radikalisierte Minderjährige in jihadistische Aktivitäten verwickelt.“ Und schon zuvor: „Der IS setzt bei seinen Taten auf zwei unterschiedliche Modi Operandi: zum einen auf geschulte, ausgebildete Täter, die als Gruppe agieren und komplexe Anschläge durchführen, zum anderen auf Einzeltäter, die im Internet kontaktiert und rekrutiert werden oder auch nur seine Propaganda konsumieren und die mit überall und leicht verfügbaren Mitteln (Messer, Fahrzeug) ‚einfache‘ Anschläge verüben.“ Bei der zweiten Variante sind „Aufwand und Kosten (…) ungleich geringer“, sie ist also vorzuziehen und leicht zu begehen.
Neues gibt es aber auch „jenseits des Jihadismus“. Denn da vereinen sich vermehrt seit dem 7. Oktober 2023 „bisher getrennt und unterschiedlich agierende islamistische Gruppierungen“ oder „rücken doch (…) näher zusammen“, argumentieren demnach auf einer Linie: „Sie behaupten eine staatliche und gesellschaftliche Unterdrückung und Ausgrenzung von Muslimen und fordern diese dazu auf, sich vom deutschen Staat und seinen Institutionen fernzuhalten und unter sich zu bleiben.“ Staatliche Stellen hätten keine Legitimation für „wahre“ Muslime, würde da verbreitet. Und diese „Position verfängt bei vielen, vor allem jungen Muslimen, und wird voraussichtlich noch länger wirkmächtig bleiben“, so der Bericht. Es braut sich also etwas zusammen.
In Deutschland fehlt aber, wie gesehen, sogar die Erkenntnis: „keine gesicherten Zahlen“ – man kann es nicht genug betonen. Das bedeutet unter anderem, man traut sich nicht einmal eine Schätzung zu. Das Problem scheint größer zu sein, als der Verfassungsschutz vertragen kann. Derselbe Verfassungsschutz überwacht und kritisiert allerdings reihenweise gesetzestreue Bürger, die ein grünen-kritisches Meme geteilt haben. Er scheint gut beim Abhören und Überwachen der eigenen Staatsbürger, schlecht bei den neu Zugewanderten. Das ist keine neue Erkenntnis, aber in der derzeit sich anbahnenden Lage – die der Bericht richtig, sine ira et studio erläutert – eine immer gefährlichere.