
Während der Corona-Krise ließen sich die Proteste gegen das Impf-Reglement nicht sauber in das alte Links-Rechts-Muster der Politik einordnen. Um diese Bestrebungen trotzdem polizeilich und verfassungsschutzrechtlich erfassen zu können, wurde beim Bundesverfassungsschutz die Idee einer „verfassungsrechtlich relevanten Verunglimpfung des Staates“ eingeführt.
Die Idee war simpel: Wer den Staat über ein gewisses Maß kritisiert, dem kann zur Last gelegt werden, dass er den Staat, seine Politiker oder seine Institutionen verunglimpft. Diese Idee ist mittlerweile zum Selbstläufer geworden. So wurde ein Sonderstrafrecht eingeführt, das Meinungsäußerungen unter Strafe stellt, die „geeignet sind“, das „Wirken“ von Politikern „erheblich zu erschweren“.
Im vormals geheimen Gutachten des Bundesverfassungsschutzes zur AfD wird dieser Gedanke aufgegriffen:
„Auch wenn es einer politischen Partei nicht darauf ankommt, die parlamentarische Demokratie abzuschaffen und durch ein anderes System zu ersetzen, kann angenommen werden, dass eine auf das Außerkraftsetzen des Demokratieprinzips gerichtete Verhaltensweise vorliegt, wenn es einer Partei darum geht, das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie zu erschüttern, um sich die Gunst der Wählerinnen und Wähler zu sichern.“
Und weiter schreibt der Verfassungsschutz:
„Vor diesem Hintergrund kann bei Äußerungen, die darauf abzielen, das Vertrauen der Bevölkerung in die parlamentarische Staatsverfassung als Ganzes in Frage zu stellen, durchaus angenommen werden, dass diese über eine zulässige Machtkritik hinausgehen und auf ein Außerkraftsetzen des Demokratieprinzips gerichtet sind.“
Der Verfassungsschutz gesteht der Opposition zwar das Recht zu, auf „etwaige bestehende Missstände des parlamentarischen Systems“ hinzuweisen. Aber:
„Über solche Kritik hinausgehende gehäufte pauschale Beschimpfungen, Verdächtigungen und Verleumdungen gegenüber anderen demokratischen Parteien und deren Politikerinnen und Politikern können aber unter gewissen Voraussetzungen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen darstellen.“
Was ein legales Niveau von Kritik ist, das will der Verfassungsschutz im Laufe seiner Untersuchung selbst feststellen können. Dass die AfD über dieses Niveau an Kritik hinausgeht, versteht sich von selbst – auch wenn die Beamten nie feststellen, wo denn die Grenze überschritten wurde. Man kann also davon ausgehen, dass ein einzelner Facebook-Post mit Kritik an der Politik noch legal ist – also, solange die Kritik nicht allzu scharf vorgetragen wird. Ob ein Bürger aber über das legale Niveau von Kritik in die Verleumdung des Systems gerutscht ist, weiß er erst, wenn der Verfassungsschutz Akten über ihn anlegt.
Tino Chrupalla zum Beispiel machte den Fehler, dass er in einer Rede forderte:
„Perspektivisch muss aber Europa seine Verteidigung wieder in die eigenen Hände nehmen. Das muss es sein. Es muss souverän sein und auch Deutschland muss an seiner Souveränität arbeiten. Das sehen wir doch aktuell, dass wir das in vielen Bereichen eben nicht sind.“
Die Forderung nach Souveränität sei eine rechtsextreme Formulierung, da es impliziere, dass Deutschland nicht über seine eigenen Geschicke entscheiden könne, so das Gutachten des Verfassungsschutzes.
„So spricht etwa der pauschale Vorwurf, die Bundesrepublik sei nie ein souveräner Staat gewesen und sei es auch weiterhin nicht, der Bundesrepublik Deutschland in diffamierender Weise die Volkssouveränität und damit ihren demokratischen Charakter ab“, urteilt ein ungewählter Bürokrat im Bundesamt.
Aber aufgepasst! Wenn gefordert wird, Deutschland müsse „technologische Souveränität“ von amerikanischen Unternehmen erlangen, dann ist das nicht Rechtsextremismus. Jedenfalls ist der Redaktion nicht bekannt, dass das Bundesamt für Forschung, Technologie und Raumfahrt Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes wäre.
Auch wer anderweitig thematisiert, dass Deutschland von Entscheidungen in anderen Ländern, besonders in den Vereinigten Staaten, abhängig ist, ist tendenziell Rechtsextremist. Die Forderung nach dem Abzug amerikanischer Truppen und Atomwaffen aus Deutschland ist historisch sowohl im extrem rechten als auch im gemäßigt linken Lager nicht unbekannt. Dass Birgit Bessin (seit 2025 MdB der AfD) forderte: „Wir verlangen den Abzug aller alliierten Truppen aus Deutschland, inklusive aller ihrer Waffen und Atomwaffen. Damit Deutschland endlich wieder eigene Souveränität hat“, ist ein weiterer Beweis für den Verfassungsschutz.
Kanzler Friedrich Merz sagte im Februar dieses Jahres in der „Berliner Runde“: „Für mich wird absolute Priorität haben, so schnell wie möglich, Europa so zu stärken, dass wir Schritt für Schritt auch wirklich Unabhängigkeit erreichen von den USA.“
SPD-Politiker Michael Roth forderte im ZDF-Morgenmagazin: „Wir können nicht länger auf die USA vertrauen, sondern wir müssen aus eigener Kraft etwas tun.“ Damit meinte er den Ausbau der Verteidigungsfähigkeit Europas.
Konstantin von Notz (Grüne) fordert: „Viel zu lange haben sich Deutschland und andere europäische Dienste [Geheimdienste, Anm. d. Red.] auf die Führungsrolle der USA verlassen.“
Die folgende Aussage ist aber als rechtsextremismusverdächtig dem Verfassungsschutzpapier entnommen: „Wenn wir wirklich souverän werden und uns also von den USA emanzipieren wollen, brauchen wir Partner. Alleine schaffen wir das nicht.“ Das kommt aber von Hans-Thomas Tillschneider, MdL der AfD in Sachsen-Anhalt.
Natürlich gibt es auch härtere Aussagen. So wird Björn Höcke zitiert, der Politiker „der etablierten Parteien“ (sic Verfassungsschutz) „Statthalter des US-Establishments im Vasallenstaat BRD“ nannte.
Man merke: Wer den vom Verfassungsschutz als zulässig erachteten Diskurs verlässt, ist tendenziell rechtsextremistisch. Wie soll in einer Demokratie gestritten werden, wenn ein Geheimdienst über die Legitimität der öffentlich vorgetragenen Argumente entscheidet?
Der Verfassungsschutz macht sich auch zum Wächter über die Medienwelt. Wer das bestehende Mediensystem der Bundesrepublik in Abrede stellt, der muss ein schlechter sein, denn:
„Im Zuge der Infragestellung der staatlichen Souveränität wird wiederholt unterstellt, es gebe keine Pressefreiheit, sondern die Medien würden durch die Regierung bzw. durch außenstehende Mächte gesteuert.“
Hier wird wieder Björn Höcke durch den Verfassungsschutz zitiert: „Es gibt in Deutschland keine Radio- und Fernsehsender, die als notwendige Gegenmacht gegen die zwangsfinanzierten Staatssender auftreten könnten, um unseren Weg zu unterstützen und ihm Gehör zu verschaffen. Präsident Trump wäre ohne Fox-News nicht möglich gewesen. Ebenso wird die AfD ohne starke Medien einen Durchbruch nicht schaffen können.“
Die Leser dieser Stelle sollten aufpassen, dass sie der Analyse Höckes nicht zustimmen. Das könnte gefährlich werden.
An anderer Stelle wird er erneut zitiert: „Die Medien werden in Deutschland selbstverständlich komplett von der Regierung kontrolliert. Alternative, oppositionelle Meinungen sind nicht vertreten.“ Das ist in seiner Allgemeinheit Schwachsinn. Oder wo erscheint dieser Text gerade? Aber die Unterteilung von Meinungen in diskutabel und nicht diskutabel ist nicht Aufgabe eines Inlandsgeheimdienstes.
Auch muss auf sprachliche Reinheit achten, wer über die Politik in Deutschland diskutieren will. Es ist Usus, die Parteienlandschaft in „demokratische Parteien“ (alle außer der AfD) und „undemokratische“ (AfD) aufzuteilen. Das ist keine Verunglimpfung des politischen Systems. Es ist auch keine Ablehnung des Mehrparteiensystems – jedenfalls kritisiert der Verfassungsschutz diese Begriffe nicht. Doch wer von „Blockparteien“ oder „Kartellparteien“ spricht, der unterstellt dem politischen Gegner, dass er keine Opposition zulassen oder nur für den eigenen Vorteil handeln wolle.
Das konstituiert für den Verfassungsschutz eine Ablehnung des Mehrparteiensystems und damit der Demokratie als Ganzes:
„Dabei wird durch die Nutzung von Begriffen wie ‚Kartellparteien‘ suggeriert, die (anderen) Parteien seien überhaupt nicht in der Lage, Teil eines freien Meinungsbildungsprozesses und entsprechend demokratischer Abläufe zu sein; damit wird in einer dem Demokratieprinzip widersprechenden Weise die Möglichkeit ausgeschlossen, die anderen Parteien könnten auch gleichwertig sein.“
Es bleibt die Frage: Warum obliegt es ungewählten, gesichtslosen Bürokraten im Bundesamt für Verfassungsschutz zu entscheiden, was ein angemessenes Niveau an Kritik am Staat, am Parteiensystem, an Medien und Institutionen ist? Um sicherzugehen, dass keiner der 4.400 Mitarbeiter des Verfassungsschutzes hier etwas falsch versteht, sofern er mitliest: Nein, der Autor behauptet nicht, der Diskurs in Deutschland würde eingeschränkt. Das wäre ja verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates.