
Wie tickt der Kreml? Was will Putin, welche Strategien und Pläne heckt Russland aus? Am russischen Reißbrett befindet sich der eigene Großmachtstatus derzeit noch irgendwo zwischen Planung und Umsetzung, in den Köpfen der Deutschen jedoch ist Putin längst omnipräsent. Für diejenigen, die Russland fürchten, gilt das beinahe mehr als für Anhänger und Neutrale: Der Kreml scheint alles zu können und hinter vielem zu stecken.
Bei der Redlichkeit der russischen Führung ist man sich also uneins, in der Kompetenzvermutung schon näher beieinander. Doch angesichts jüngster und älterer, kleiner und größerer Vorfälle wird ein zentraler Umstand zunehmend spürbar: Gerade den Verantwortlichen in unserem Land mangelt es gehörig an Russland-Kompetenz.
Wladimir Putin bei einer Konferenz im Kreml
Man muss nicht über ein analytisches Genie verfügen, um den aktuellen Zustand zu beschreiben: Passiert irgendwo irgendetwas, das sich im Rahmen einer halbwegs plausiblen Story einigermaßen mit Russland in Verbindung bringen lässt, hauen alle kräftig in die Tasten oder sprechen ihren Text in das nächstbeste Mikrofon. Schnell sind russlandfreundliche oder –feindliche Hypothesen aufgestellt, dann schwimmen sie als narrativer Lachs vom Laichplatz stromabwärts durch den digitalen Äther. Die jeweiligen Geschichtchen passen dann, wer hätte es gedacht, zu der ideologischen Auffassung ihres Urhebers. Nimmt einer an, dass Russland uns vernichten will, dann wird ein Stromausfall in Berlin oder Spanien oder der Irrflug eines ukrainischen Schrapnells rasch zu einem Sabotageakt; umgekehrt wird jede noch so offensichtliche Aggression des Kremls zügig relativiert, wenn sie die eigenen Annahmen stört. Gemein ist dem nicht enden wollenden Gequatsche über Russland nur, dass kaum jemand ein wenig Ahnung von der Materie mitbringt.
Den Bürgern und Lesern dieses Landes sei dies unbenommen. Sie haben geschäftige Berufe und reizende Familien, um die sie sich zu kümmern haben. Erstaunlich ist es jedoch im Umfeld des Journalismus und der Politik. Betrachten Sie einmal einige der Vorfälle aus der letzten Zeit, beginnend mit dem Abschuss russischer Drohnen über dem Süden Polens.
Ein polnischer Soldat neben einer russischen Drohne, die in Polens Luftraum eingedrungen war und abgeschossen wurde. Luftraumverletzungen kommen häufig vor – und werden regelmäßig zur „Provokation“ hochgespielt.
Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um einen rein militärischen oder einen politischen Test Russlands an der polnischen Reaktion gehandelt hat, doch die Steuerung von drei Dutzend unbewaffneter Drohnen in fremden Luftraum ist derart offensichtlich mit Vorsatz geschehen, dass sich jede Spekulation darüber erübrigt. Solche Provokationen sind überdies nicht einmal ungewöhnlich, und wer einmal einen Tag seines Lebens mit der Luftwaffe verbracht hat, der weiß, dass solche Luftraumverletzungen seit zehn Jahren an der Tagesordnung sind. Umgekehrt ist es himmelschreiender Unsinn, in dieser klare Grenzübertretung mehr als einen Test zu sehen, auf den man kühl reagieren muss. Eines der größten Probleme im Umgang mit russischen Provokationen ist, dass die europäische Politik ihre Reaktionen immer an die eigene, innenpolitische Öffentlichkeit richtet und nie direkt an Russland. Dazu passt, dass vor ein paar Jahren Marie-Agnes Strack-Zimmermann bei einem ähnlichen Vorkommnis bereits von einem russischen Angriff twitterte, bevor feststand, dass es sich um Trümmerteile einer ukrainischen Luftabwehrrakete handelte. Wen wundert es, dass inzwischen alle Seiten wahlweise hysterisch oder ungläubig auf die Einschätzung der Politik reagieren? Ist die Empörung, die Überraschung gespielt, oder gibt es immer noch keine geschulte Reaktion auf eine gängige Praxis des Kremls?
In die Russland-Unkenntnis von Politikern und Journalisten mischen sich auch erhebliche Mängel in technischen und militärischen Fragen, gepaart mit einem Unwillen, klassisch strategisch zu denken. Bei dem jüngst erfolgten Brandanschlag auf die Stromversorgung des Berliner Adlerhofs durch eine linksextreme Gruppierung stand für viele sofort fest, dass es sich um russische Sabotage handeln musste. Ähnliches galt, als vor einigen Wochen der Strom in Teilen Portugals und Spaniens ausfiel. Naheliegende Erklärungen, wie beispielsweise die Tatsache, dass die Infrastruktur in vielen Orten Europas marode ist, dringen kaum durch. Bereits in den 1970er und –80er Jahren kam es zu kleineren und größeren Sabotageakten durch linksautonome Gruppen, die sich ideologisch auf den Kommunismus beriefen. Die Sowjetunion wusste selten etwas von ihrem Glück.
Brandanschlag auf das Berliner Stromnetz vor wenigen Tagen. Sofort hieß es: russische Sabotage! Am Ende bekannte sich eine Gruppe Linksextremer.
Sabotageakte dieser Art entsprachen damals nicht der Handschrift sowjetischer Geheimdienste, und es spricht vieles dafür, dass das auch heute noch gilt. Zwar kam und kommt es in Europa vereinzelt zu russischen Aufklärungs- und Sabotageakten, dann allerdings immer an militärischer Infrastruktur in Grenznähe und überdies selten. Der Schwerpunkt russischer Operation liegt, neben der im Grunde innenpolitisch motivierten Ermordung von Dissidenten, auf Desinformation, nicht auf dem Durchtrennen irgendwelcher Drähte. Es sähe dem Kreml ähnlicher, aus einem Vorfall in Berlin eine große mediale Nummer zu machen – beispielsweise, indem man Täter mit Migrationshintergrund erfindet – als ihn tatsächlich selbst anzuordnen oder durchzuführen. Die alten KGB-Archive sind voll von derartigen Operationen, verwirklicht oder nicht. Moskau schafft so gut wie nie neue Schwächen, sondern nutzt vorhandene aus, weil es eine strategische Lehre aus der Konfrontation mit einem materiell überlegenen Gegner gezogen hat.
Zu den Fehleinschätzungen im Westen gesellen sich Falschmeldungen und himmelschreiende Inkompetenz. Jüngst kursierte die Meldung, dass das Flugzeug der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von russischen Agenten „gestört“, also das an Bord befindliche GPS im bulgarischen Luftraum angegriffen worden sei. Ein Kollege der Financial Times, der die Meldung zuerst veröffentlichte, schrieb, das Flugzeug von der Leyens sei eine Stunde lang über dem Zielflughafen gekreist, bevor es den Schaden beheben und landen konnte. Über öffentlich einsehbare Plattformen wie „FlightRadar“ war zu diesem Zeitpunkt bereits ersichtlich, dass das nicht stimmen konnte – die EU-Maschine hatte schlicht mit einer Stunde Verspätung in Brüssel abgehoben, ein kurzer Ausfall der Bordsysteme wurde vom bulgarischen Verkehrsminister später bestätigt. Zu den fünf verschiedenen Berichten im ZDF über die vermeintliche russische Störaktion schaffte es schließlich leider keine einzige Korrekturmeldung. Die Russen, die in diesem Fall rein gar nichts mit dem Vorfall zu schaffen hatten, dürften sich allenfalls darüber freuen, dass ihnen eine solche Fähigkeit unvermittelt zugeschrieben wurde.
Ursula von der Leyens Flugzeug hatte eine Stunde Verspätung – sofort machte die Behauptung die Runde, Russland habe das GPS-Signal an Bord gestört. Frei erfunden, wie sich leicht überprüfen ließ. Trotzdem wurden die Fakenews verbreitet – und nur selten korrigiert.
Allerhand (geo)strategische Fragen könnte man immer wieder stellen, beispielsweise: Was nützte es dem Kreml überhaupt? Wo liegt der Vorteil für Russland, eine Pipeline zu beschädigen, durch die kostspieliges und zu diesem Zeitpunkt noch immer willkommenes Gas nach Deutschland fließt? Was genau bringt es Moskau, wenn demnächst die CEOs des Berliner Adlerhofs in Berlin-Mitte auf der Matte stehen, um mehr Sicherheit für ihre Strom-Infrastruktur zu verlangen, und Schwachstellen ausgebessert werden können? Wo liegt der Vorteil darin, dem Regierungsjet Ursula von der Leyens beim Landeanflug in Bulgarien auf die Nerven zu gehen? Ist die Empörungsmaschinerie erst einmal angelaufen, ist es beinahe unmöglich, ihr in die Speichen zu greifen. Ärgerlich sollte das in erster Linie für alle sein, die vor Russlands Aktivitäten zurecht warnen – und deren seriöse Sorge in einem Meer der Hysterie unterzugehen droht.
Ja, es gibt Teile der Medien und der Parteipolitik, die Russland reflexhaft für alles verantwortlich machen und gerade dadurch einer ernsthaften Befassung mit dem Land im Wege stehen. Bezeichnend ist, dass aus ihrem nicht versiegenden Strom der Empörung selten produktive Vorschläge erwachsen. Einen Gegner – wenn man es denn so sehen will – wird man auf diese Weise nicht in die Schranken weisen.
Wer berät diese Leute, die in den Redaktionsstuben und Kabinetten die Entscheidungen treffen, die Artikel und Communiqués schreiben? Zu meinen diebischen Freuden zählt es, vermeintliche Experten und meinungsstarke Kommentatoren auf Veranstaltungen und in Interviews nach sehr einfachen Dingen zu fragen. Beispielsweise: Können Sie mir zehn Städte in Russland nennen? Oder, für die Fortgeschrittenen: Wie heißt die ukrainische Währung oder das Parlament in Kiew? Welchen der sechs russischen Geheimdienste vermuten Sie hinter diesem und jenem? Zumeist weicht der entschlossene Gesichtsausdruck dann einem ratlosen.
Zu guter Letzt ist es bemerkenswert, wie das vorherrschende Unwissen in militärischen, strategischen, technischen und kulturellen Angelegenheiten in den meisten Fällen durch eine völlige Unkenntnis der Sprache abgerundet wird. Eine Vielzahl derjenigen, die dafür bezahlt werden, sich Tag für Tag mit dem Kreml zu befassen, haben sich in geschlagenen drei Jahren nicht die Mühe gemacht, ein paar Brocken Russisch zu lernen, um hier und da eine Quelle zu überprüfen. In Regierungskreisen bildet Verteidigungsminister Pistorius die lobens- und nennenswerte Ausnahme, da er die russische Sprache bereits im Gymnasium erlernt hat. Unter den prominenten Talkshow-Gästen und vielen Internet-Persönlichkeiten kann man diese Fähigkeit hingegen mit der Lupe suchen.
Deutschland mangelt es nicht an Menschen mit einer starken Meinung zu Russland. Und doch wissen sehr viele sehr wenig über dieses Land, diesen Staat: Historisch, strategisch, militärisch, kulturell. Wenn Russland wirklich eine derart große Bedrohung nicht nur für die Ukraine, sondern auch für uns ist, muss dieser Zustand enden: Deutschland braucht mehr Russland-Kompetenz. Schaden wird es uns auf jeden Fall nicht.