
Das Völkerrecht ist gut gemeint – und selten gut durchgesetzt. Es beruhigt das Gewissen, liefert moralische Orientierung und wird in politischen Reden inflationär bemüht. Doch was passiert eigentlich, wenn es gebrochen wird? Meist: nichts.
Völkerrecht ist das Recht, das die Beziehungen zwischen souveränen Staaten regelt. Es ist kein innerstaatliches Recht, sondern ein Recht zwischen Staaten – und es funktioniert nur, solange sich Staaten freiwillig daran binden oder es gegenseitig anerkennen. Damit ist es streng genommen aber gar kein Recht. Einem Gesetz, das von der Freiwilligkeit der ihm Unterworfenen abhängt, geht ab, was es zum Gesetz macht: verbindliche Durchsetzung.
Das Völkerrecht ist damit ein wenig wie das Schild an Berliner Bahnhöfen: „Messer verboten“. Es wirkt beruhigend, hat Signalwirkung – aber hilft in der Praxis wenig. Denn wer grundsätzlich bereit ist, zuzustechen, lässt sich auch nicht durch Regeln davon abhalten, die ihm untersagen, Stichwaffen mit sich zu führen. Es gibt eine zweite Parallele: Wer aus beruflichen Gründen ein Messer mit sich führt, und eine Messerverbotszone durchquert, hat das Gesetz gebrochen – doch kaum jemand würde das als kriminelles Schurkenverhalten bewerten. In ähnlicher Hinsicht kann der Bruch mit dem Völkerrecht legitim und illegitim sein.
Eine Messerverbotszone in Berlin. Steigende Kriminalität wird in Deutschland mit einer eher symbolpolitischen Maßnahme angegangen.
Auch wenn aus völkerrechtlicher Sicht strittig ist, ob Israels Krieg gegen den Iran legitim ist, hat sich etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bereits klar positioniert. Derselbe Söder, der beim Ukraine-Krieg das Völkerrecht sofort gegen Russland ins Feld führen würde. Er twitterte:
„Unsere Linien sind klar: Pro Ukraine, pro Israel, pro EU und pro USA. Die Luftschläge gegen den Iran waren unvermeidlich. Der Iran ist die größte Bedrohung im Nahen Osten. Er stellt das Existenzrecht Israels infrage, will eine Atombombe bauen, greift seine Nachbarn an und unterstützt Terrororganisationen.“
Söder beruft sich insgeheim also auch nicht auf das Völkerrecht. Es taugt in der Praxis eben nicht als universeller Maßstab. Je nach Blickwinkel, fände vermutlich jeder für sich einen Völkerrechtsbruch, mit dem er im Grunde kein Problem hat.
Nur drei Beispiele:
1. Israel, die Westbank und die Golanhöhen: Seit dem Sechstagekrieg von 1967 hält Israel die Westbank und die Golanhöhen besetzt – teils mit Siedlungen, teils mit offizieller Annexion. Völkerrechtlich ist das klar: Die Westbank gilt als besetztes Gebiet, und die Siedlungspolitik verstößt gegen die Genfer Konventionen. Auch die Annexion der Golanhöhen wurde von der UN-Generalversammlung mehrfach als rechtswidrig verurteilt.
Aber: Israel hat diese Gebiete in einem Krieg um seine Existenz erobert, den es nicht begonnen, sondern gegen mehrere angreifende Nachbarn geführt und gewonnen hat. Die Eroberung war nicht Ausdruck imperialer Lust, sondern ein militärisches Faustpfand zur Sicherung des eigenen Überlebens. Dass Israel nie bereit war, diese Gebiete einfach wieder herzugeben, obwohl das Völkerrecht es fordert, spricht an dieser Stelle weniger gegen den jüdischen Staat als gegen das Völkerrecht, das auf solche Fälle nicht zugeschnitten ist. Das Völkerrecht lässt die historische Genese von Konflikten unberücksichtigt. Man kann nicht erwarten, dass ein Staat päpstlicher handelt als der Papst, wenn der Preis die eigene Existenz sein könnte.
Berglandschaft an den Ausläufern des Bergs Hermon oberhalb der israelischen Siedlung Newe Atiw in den israelischen Golanhöhen.
2. Die Türkei in Nordsyrien: Offiziell begründet Ankara seine Militärpräsenz mit dem Kampf gegen Terrorismus und Grenzsicherung. In der Praxis kontrolliert die Türkei seit 2016 Teile Nordsyriens, wo überwiegend Kurden leben. Das Assad-Regime sprach von einer Besatzung, die UN verurteilen das Vorgehen, ernsthafte Konsequenzen bleiben jedoch aus. Das Recht des Stärkeren unterliegt dem Völkerrecht nicht.
3. Marokko und die Westsahara: Ein Paradebeispiel für ignoriertes Völkerrecht ist die Westsahara, die von Marokko seit 1975 weitgehend kontrolliert wird, obwohl der Internationale Gerichtshof und die UN sie als „nicht-selbstverwaltetes Territorium“ einstufen. Ein seit Jahrzehnten versprochenes Referendum zur Selbstbestimmung wird von Marokko systematisch verschleppt. Und obwohl weiterhin gekämpft wird und Zehntausende in Flüchtlingslagern leben, interessiert sich die Weltgemeinschaft für das Thema nicht.
Das Völkerrecht lässt sich in der Breite nicht durchsetzen – auch das ist eine Parallele zur Messerverbotszone. In einem funktionierenden Rechtsstaat gibt es nicht nur Paragrafen, sondern auch Staatsgewalt, Gerichte und Vollstreckungsorgane, also genau jene verbindliche Durchsetzung, die beim Völkerrecht fehlt. Es gibt schließlich keine Weltpolizei, die eingreift, wenn Staaten die Territorialität anderer Staaten verletzen.
Soldaten der Vereinten Nationen sollen in vielen Krisen-Regionen der Welt für Ruhe sorgen, zum Beispiel im Kongo (Aufnahme vom 17.06.2003). Die Truppen der UN tragen häufig blaue Helme.
Ebenso wenig gibt es eine wirksame juristische Instanz, die Urteile fällt und Strafen verhängt, die sodann umgesetzt werden. Dass die Regeln existieren, ist nicht sinnlos – sie schaffen Erwartungshaltungen, können moralischen Druck erzeugen. Doch wer das Völkerrecht wie ein Strafgesetzbuch behandelt, der verwechselt Norm mit Realität. Recht ist nur dann wirklich Recht, wenn klar ist, was passiert, wenn man es bricht – und genau das fehlt im internationalen Maßstab.
Noch etwas ist auffällig: Im politisch korrekten Deutschland existieren „Völker“ praktisch nicht mehr, jedenfalls nicht im öffentlichen Diskurs. Wer vom „deutschen Volk“ spricht, wird sofort überprüft, ob er damit auch ja das „Staatsvolk“ meint. Wer von Völkern spricht, bewegt sich nahe am „völkischen Denken“. Ironischerweise lebt der Begriff „Volk“ am stabilsten dort weiter, wo er am wenigsten greifbar ist: im Völkerrecht. Dort dürfen Völker Subjekte sein und Rechte haben, gilt das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“.
Man muss dem Völkerrecht lassen: In manchen Bereichen wirkt es durchaus zivilisierend. Das Verbot chemischer und biologischer Waffen etwa ist breit anerkannt – selbst notorische Schurkenstaaten geben sich Mühe, nicht beim Einsatz von Nervengas erwischt zu werden. Auch das humanitäre Völkerrecht, etwa die Genfer Konventionen, entfaltet Wirkung: Es gibt Regeln zur Behandlung von Kriegsgefangenen, Schutzvorschriften für Zivilisten, eindeutige Tabus.
Zum Zivilisationsprozess gehörte, dass selbst Gewalt und Krieg Regeln unterworfen wurden. Und doch ist das Völkerrecht kein durchsetzbares System. Wer es zur absoluten Instanz erklärt, macht sich etwas vor. Es ist ein Orientierungsrahmen mit zivilisatorischem Anspruch – aber keine juristische Realität mit Gewaltmonopol.
Lesen Sie auch: Gerüchte über Flucht von Insassen aus dem Folterknast in Teheran