Vor 60 Jahren erste Tunnelflucht aus der DDR: In die Freiheit gebuddelt – bis die Schüsse fielen

vor 7 Monaten

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Bildquelle: NiUS

Die Geschichte dieser Flucht kennen Millionen Menschen. Sie wurde 2001 unter dem Titel „Der Tunnel“ mit Heino Ferch, Sebastian Koch und Alexandra Maria Lara verfilmt. Sie ist wirklich passiert – und zwar fast auf den Tag genau vor 60 Jahren im geteilten Berlin. Und sie passt so gut zum heutigen Tag der Einheit.

Ein Foto vom „Der Tunnel“ Film-Set

In den Nächten zum 4. und 5. November 1964 geschah etwas, was so nie wieder in Deutschland geschah: Unter Todesgefahr flüchteten 57 Ostdeutsche nach Westberlin. Sie flohen durch den längsten Tunnel, der an der deutsch-deutschen Grenze je gebaut wurde. Und das kam so.

Die Berliner Mauer stand erst zwei Jahre, aber sie hatte tiefe Wunden hinterlassen. Sie hatte Familien und Freunde auseinandergerissen, wer in den Westen wollte, musste fliehen – immer in Gefahr, bei der Flucht erschossen zu werden.

Da kommt Klaus-Michael von Keussler ins Spiel, ein 23 Jahre alter Jura-Student aus Berlin. Er sagt heute in der FAZ: „Wir wollten uns nicht mit der Teilung abfinden, die Mauer war ein Schlag ins Gesicht für uns alle. Wir konnten doch nicht einfach zusehen.“ Bald formierte sich eine Gruppe von Freunden, die nur ein Ziel hatte: Menschen in die Freiheit zu verhelfen.

Klaus-Michael von Keussler

So begann der spektakuläre Tunnelbau 1957.  Ein Hinweis auf leere Kellerräume an der Bernauer Straße, die Ost- und Westberlin trennte. Es waren einst Backstuben einer still gelegten Bäckerei. Klaus-Michael von Keussler sagte dem Bäckermeister: „Wir sind Studenten und möchten in den alten Backstuben gerne ein Foto-Studio einrichten.“ So geschah es – für 100 Mark im Monat mietete sie die Kellerräume. Ihr wahres Ziel war es, einen Tunnel von West nach Ost zu graben. „Wir haben ganz primitiv angefangen“, erinnert er sich. „Mit Hacke, Spaten und Bohrer begannen wir, das Erdreich abzutragen. Zum Glück war es keine Betondecke.“

Die Freunde gruben einen senkrechten Schacht von etwa zehn Meter Tiefe. Meter um Meter gruben sie mit einfachsten Werkzeugen Nacht für Nacht, begleitet von enormer körperlicher Anstrengung und der Angst entdeckt zu werden. Ein umgepolter Staubsauger sorgte für Frischluft. Aus Sicherheitsgründen blieben sie oft mehrere Tage im Keller. Die Hauptgruppe bestand aus zehn Mann, es kamen aber immer wieder Handwerker und andere Studenten. Im Oktober 1964 dann der entscheidende Moment: Nach 145 Metern durchbrachen die Tunnelgräber die Erde – und landeten in der Sickergrube eines stillgelegten Toilettenhäuschens im Hinterhof des Hauses Strelitzer Straße 55 – im Westen.

57 Ostberliner konnten in zwei Nächten durch den Tunnel in die Freiheit entkommen. Was aber niemand wusste: Getarnte Stasi-Agenten hatten sich unter die Flüchtenden gemischt und die DDR-Grenztruppen alarmiert. „Plötzlich, nach 24 Uhr“, so erzählt von Keussler heute, „hielten zwei Autos und eine Kradstreife vor dem Haus.“ Auf dem Hinterhof kam es zu einem Schusswechsel zwischen den Fluchthelfern und den NVA-Grenzern. Egon Schultz, Unteroffizier der DDR-Grenztruppe, wurde von einem Querschläger der eigenen Kameraden tödlich getroffen. Erich Honecker hielt die Totenrede und behauptete, Westberliner Revanchisten hätten den Soldaten ermordet.

Trauerfeier von Egon Schultz, Unteroffizier der DDR-Grenztruppe

Die Flucht war jäh zu Ende gegangen, die Westberliner Fluchthelfer konnten gerade noch in ihrem eigenen Tunnel entkommen – immer in Angst vor Schüssen oder vor Handgranaten.

Der „Tunnel 57“ war Vorbild für viele andere Tunnelprojekte, von denen allerdings nur 19 erfolgreich waren. Mehr als 300 DDR-Bürger schafften es, durch selbstgebaute Tunnel von Ost- nach Westberlin zu fliehen. Wie viele Fluchthelfer bei ihrer Arbeit ums Leben kamen, ist nicht bekannt. Heute, am Tag der Deutschen Einheit, ist es angebracht, ihrer zu gedenken.

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