
Mit einem Wort hat Bundeskanzler Friedrich Merz am Mittwoch während der Regierungsbefragung im Bundestag praktisch das bisherige christliche Menschenbild der Union demontiert. Auf die Frage der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch, ob Merz es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin zu wählen, trotz ihrer Befürwortung von Abtreibung bis zur Geburt, antwortete Merz kurz und knapp: „Auf Ihre hier gestellte Frage ist meine ganz einfache Antwort: Ja.“
Bislang stellte die Union sich kategorisch gegen eine Legalisierung von Abtreibung – nach derzeitigem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wäre das sogar verfassungswidrig. Brosius-Gersdorf könnte als Richterin wohl über eine erneute Austarierung der Rechtsprechung entscheiden und eine Abtreibungslegalisierung forcieren.
Dass Merz Bedenken aufgrund der Haltung von Brosius-Gersdorf so lapidar abtut, könnte noch für innerparteiliche Auseinandersetzungen sorgen. Das konnte man bereits im Plenarsaal beobachten: Während die Unions-Fraktion bei vorherigen Aussagen von Merz kräftig applaudierte, verweigerten viele seiner Fraktionsfreunde nach seiner Zustimmung zu Brosius-Gersdorf ihm den Applaus.
In den sozialen Medien hielten sich Unions-Politiker dagegen deutlich bedeckt. Der JU-Ortsverband Filder fiel auf X lediglich mit einer obszönen Äußerung in Richtung von Merz auf. Die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), Susanne Wenzel, schrieb auf X unterdessen zur Äußerung: „Ich bin fassungslos“ und „Zur Erinnerung: Bei der CDU-Mitgliederbefragung 2023 haben rund 93,5 % den Lebensschutz als wichtig bzw. besonders wichtig in der CDU eingestuft. Die Mitte der CDU lehnt dieses Votum gegen die Menschenwürde für Kinder im Mutterleib also ab. Nur, um das hier mal klarzustellen.“ Andere Politiker und Verbände aus der Union äußerten sich jedoch nicht oder nur sehr verhalten zu der Äußerung von Merz.
Auf zahlreiche Kritik stieß Merz vonseiten der AfD. Die Fragestellerin aus dem Bundestag, von Storch, schrieb auf X: „Wenn es dagegen in der CDU/CSU jetzt keinen Aufstand gibt, ist die Partei moralisch erledigt und sollte nun endgültig das C aus dem Namen streichen.“ Auch Thorsten Weiß, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, nannte die Aussage von Merz eine „moralische Bankrotterklärung“ und schrieb auf X: „Die CDU lässt sich nicht von links vorführen, sie ist moralisch derart verrottet, dass es ihr egal ist.“
Auch in der deutschen Medienlandschaft wurde rasch Kritik an Merz laut. „An dieses ‚Ja‘ des Kanzlers wird man ihn und seine Partei noch oft erinnern. Ein denkwürdiger Tag“, schrieb etwa Marc Felix Serrao, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung in Deutschland. Die Publizistin Birgit Kelle warnte: „Ich bin ehrlich schockiert. Das, lieber Herr Bundeskanzler Merz, ist nicht, wofür die CDU steht und immer stand. Ich distanziere mich als Mitglied von dieser Haltung.“
Doch Merz scheint entschlossen, seinen Kurs auch gegen innerparteiliche Kritik durchzusetzen. Am Freitag soll Brosius-Gersdorf mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, also auch mit der Unterstützung von Grünen und Linken, ins Bundesverfassungsgericht gewählt werden. Brosius-Gersdorf fiel in der Vergangenheit nicht nur mit ihren Äußerungen zur Abtreibung auf. Die Professorin für öffentliches Recht an der Universität Potsdam sprach sich auch für ein AfD-Verbot, eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus und ein gegendertes Grundgesetz aus (mehr dazu hier).