Vom heiligen Moment in der Wahlkabine zu stehen

vor 2 Monaten

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Bildquelle: NiUS

Es beginnt mit dem seltsam fremden Geruch.

Wahlkabinen sind meist in Schulen aufgebaut. Man geht durch düstere Flure, Linoleum, abgewetztes Holz. Irgendwie riecht alles nach Bohnerwachs. Dann kommt man in die Aula wie in einen Empfangssaal. Und da stehen sie – freundliche Menschen, viele junge dabei: die freiwilligen Wahlhelfer.

Du zeigst deinen Ausweis, Wahlbenachrichtigungsschein (braucht man nicht unbedingt). Man geht Listen durch, man findet dich, den Menschen, auf den es heute ankommt: den Staatsbürger, den Wähler. Dann der erste heilige Moment: Du kriegst den Umschlag ausgehändigt, in denen die Papiere stecken, auf denen Deutschlands Zukunft steht. Und du einzelner Wähler bist plötzlich mittendrin in dieser Zukunftsplanung.

Eine Wahlkabine in Hamburg.

Was dann passiert, ist immer ähnlich – und doch jedes Mal anders. Eine kleine Kabine mit Pult oder Tisch, drumherum ein Vorhang, der die geheime Wahl geheim lassen soll. Diese Szenerie ähnelt sich überall, egal, wo du wählst. Du kannst meist vorne durch den Schlitz im Vorhang schauen, wer da so reinkommt und wieder geht. Manchmal siehst du einen, den du kennst. Es sind Leute aus deinem Kiez. Jetzt siehst du, wie viele Nachbarn du hast. Und wie wenige einander kennen.

Heute ist es anders. Fremde sind eine Gemeinschaft. Nie gesehen, aber manch einer nickt dem anderen wortlos zu. Hier stehen die Staatsbürger. Hier stehen die, denen es nicht egal ist, was aus ihrem Land wird. Natürlich tun das auch die Briefwähler. Aber ich finde, diesen heiligen Moment erlebst du nur hier, hier in der Wahlkabine.

Dann kommt der Moment des Ankreuzens. In diesem Jahr gibt es 59,2 Millionen Wahlberechtigte. Wie viele von Ihnen vorher wissen, wo sie ihr Kreuz machen werden – ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich immer genau gucke, welche Partei wo steht und wie viele es sind. Es ist schon vorgekommen, dass ich mich erst in diesem Moment entscheide, wo ich mein Kreuz mache. Man nennt diesen Typus den Spätentschlossenen. Davon gibt es viele.

Auch in diesem Jahr werden Erst- und Zweitstimme vergeben werden müssen.

Wie lange der heilige Moment des Wählens dauert – irgendwie ist die Zeit eingefroren. Die nächsten warten schon. Und mit dem Wort „heilig“ meine ich nicht das, was Christen darunter verstehen. Ich meine das Erhabene, das Außergewöhnliche. Den einzigartigen Vorgang, wählen gehen zu können.

Ich werde das alles auch heute erleben. Und ich freue mich darauf. Normalerweise dauert es Jahre, bis er wieder kommt – der heilige Moment, in der Wahlkabine zu stehen. Was auch immer bei dieser Wahl herauskommen wird – du kannst sagen, du bist dabei gewesen.

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