
Ich war ja ein bisschen naiv. Ich bin davon ausgegangen, dass dieser Wahlkampf anders werden würde, anders werden müsste. Mindestens die letzten drei Bundestagswahlkämpfe fanden immerhin in einem politisch eingeschläferten Land statt, das sich als wohlhabend wähnte. Bei diesen Wahlen ging es nie um grundlegende Fragen, sondern fast ausschließlich darum, wer wann falsch lacht, wer bei seinem Buch plagiiert hat, wer besser die Mutti der Nation spielen kann und sympathischer bei den Wählern ankommt.
Aber jetzt, nach fünf Jahren Nullwachstum, mit Deutschland als dem unbestreitbar kranken Mann Europas, da kann doch eigentlich niemand mehr unsere miserable Lage leugnen. Da muss doch endlich mal erkannt werden, wie übergriffig der deutsche Staat geworden ist, wie er in jedem denkbaren Bereich versagt, wie viel Schaden er damit anrichtet und wie unverschämt hoch die Abgabenlast ist. Endlich würde wieder ein ehrlicher Wahlkampf über die Größe des Staates und die Erfordernis von mehr Marktwirtschaft geführt werden. Wie schon 2002, 2005 und mit Abstrichen 2009. Das dachte ich. Ich habe mich leider getäuscht.
SPD und Grüne weichen ohnehin nicht von der Norm ab. Der Sozialstaat ist zwar viel zu groß und auf Dauer nur mitheftigsten Erhöhungen der Sozialabgaben finanzierbar, aber die Sozialdemokraten wollen eben diesen noch weiter ausbauen, noch weiter den Mindestlohn erhöhen, noch viel mehr Staat ermöglichen. Klimaplanwirtschaft und Subventionsorgien sind zwar gescheitert, die Grünen wollen aber noch viel mehr Energiezerstörung und staatliche Lenkung von Unternehmen.
Das ist natürlich keine Überraschung, allerdings trotzdem bemerkenswert. Denn als Deutschland das letzte Mal der kranke Mann Europas war, nämlich Anfang der 2000er-Jahre, zeigten sich Sozis und Grüne wesentlich reformbereiter. Im Jahr 2024 wollen sie den Kurs des Niedergangs stur und unbelehrbar fortführen, ohne jede Einsicht. Alle Kritiker sind Populisten, Hetzer sowie Putintrolle. Die zwei sozialistischen Parteien haben sich in den letzten 20 Jahren der Fehlerkultur eines jeden sozialistischen Regimes angepasst.
Eine tatsächliche Überraschung ist der bisherige Wahlkampf der größten Oppositionspartei. Die Union beschränkt sich inhaltlich auf die Ankündigung, die schlimmsten Ampelprojekte wieder rückgängig zu machen. Sie scheint darüber hinaus kein Konzept zu haben oder es niemandem mitteilen zu wollen. Bei der Union ist einfach nicht angekommen, wie schlecht es Deutschland in Wahrheit geht und wie dringend es radikale marktwirtschaftliche Reformen braucht.
Die Union um CDU-Chef Friedrich Merz will Ampel-Projekte rückgängig machen.
Wenn Friedrich Merz „völlig entsetzt“ darüber ist, dass Christian Lindner mit drei Relativierungen ein bisschen positiv über Javier Milei spricht und lupenreine linke Propaganda über die angeblichen Schäden, die Milei in Argentinien anrichtet, wiederholt, kann nicht mehr so viel Reformgeist in diesem Merz, der mal ein Buch mit dem Titel „Mehr Kapitalismus wagen“ schrieb, übrig sein.
Muss man sich mal klar machen: Eines der freiheitsfernsten und ärmsten Länder der Welt wählt einen Kapitalisten zum Präsidenten, der auch noch außenpolitisch westliche Werte teilt wie niemand sonst in Südamerika, und der Kanzlerkandidat der Partei Ludwig Erhards findet kein einziges nettes Wort dazu.
Die Union hat sich das Ziel gesetzt, niemandem auf die Füße zu treten und schön brav zu kommunizieren, damit sie vielleicht ein paar Klopfer auf die Schulter von grünen Journalisten bekommt. Die nötige radikale Wende wird mitsolchen Kuschel-Konservativen kaum möglich sein.
Die FDP mag der Freiheit nach dem Mund reden, gerade Christian Lindner und Wolfgang Kubicki machen gerade rhetorisch einen ordentlichen Job, aber sie hat selbstverständlich das Wort „Glaubwürdigkeitsproblem“ erfunden. Die Linke, das BSW und die AfD werden bei der nächsten Regierungsbildung keine Rolle spielen.
Es ist also jetzt schon sicher: Keine relevante Partei hat das Konzept oder den Willen, den deutschen Staat auch nur um fünf Prozent zu verkleinern und die Abgabenlast auch nur um zehn Prozent zu senken. Keine dieser Parteien wird in den nächsten vier Jahren auch nur ein strukturelles Problem in Deutschland lösen.
Die zur Analyse und Problemlösung unfähigen Parteien sind bei weitem nicht das einzige Problem. Unsere Leidmedien-Landschaft ist fast noch schlimmer. Wochenlang debattiert der Elfenbeinturm über das für die Realität völlig irrelevante „D-Day“-Papier der FDP. Der Spiegel kritisiert Christian Lindner dafür, dass er bei „ein Herz für Kinder“ nur 2000 Euro gespendet hat, erwähnt aber nicht, dass der SPD-Chef Lars Klingbeil nur 500 Euro locker machte. Caren Miosga fragt Habeck nach dessen Schuhwerk beim Kochen, warum er so bescheiden sei und ob er gerne Literaturnobelpreisträger wäre.
Wonach sie ihn nicht fragt: Nach seinem Untersuchungsausschuss zum Ausstieg aus der Kernenergie und ob er sich nicht schämt, nach drei Jahren Wirtschaftszerstörung Kanzler werden zu wollen. Bei Maybritt Illner wird ein Spoteingespielt, in dem Robert Habeck als der „Erwachsene im Raum“ dargestellt wird, der jetzt „die Richtlinienkompetenz“ brauche.
Die Maßstäbe sind total verrutscht, große Teile der Journalisten können oder wollen nicht mehr zwischen unwichtigund wichtig unterscheiden. Das führt dazu, dass jeder Deutsche das Trennungspapier der FDP kennt, aber kaum jemand etwas von den 620 Millionen Euro weiß, die Robert Habeck und Olaf Scholz bei einem einzigen Projekt in den Sand gesetzt haben. Da der Batteriehersteller Northvolt Insolvenz angemeldet hat, wird der Steuerzahler diese Millionen, diedem Unternehmen über die staatliche KfW-Bank als Kredit bereitgestellt wurden, niemals wiedersehen. Eigentlich ein Skandal allererster Güte, spielt im Wahlkampf aber keine Rolle.
Northvolt, ein Lieblingsprojekt von Robert Habeck, musste Insolvenz anmelden.
Die Mischung aus unfähigen Parteien und einer von realen Problemen entkoppelten Medienlandschaft trifft auf eineerschreckend lethargische Bevölkerung, die ebenfalls Realitätsflucht betreibt. Hunderttausende Deutschedemonstrierten 2014 gegen das Freihandelsabkommen TTIP, weil sie Angst vor Chlorhühnchen hatten. 1,4 Millionen Deutsche ließen sich 2019 vor den Karren der Klimasozialistinnen Greta und Luisa spannen. Anfang des Jahres haben drei Millionen Menschen gegen die AfD demonstriert, die keinen Einfluss auf die Realpolitik hat.
Wenn aber 2025 mit einberechnet sechs Jahre kein Wachstum stattfindet, Deutschland eine Kapitalflucht in dreistelliger Milliardenhöhe erlebt, Unternehmen reihenweise pleite gehen, die Sozialabgaben in den nächsten Jahren explodierenwerden und Deutschland immer weiter an Wettbewerbsfähigkeit verliert, gibt es keine großen Demos, keine Menschen auf den Straßen. Die deutsche Substanz bröckelt immer schneller dahin, ein ernstzunehmender Wille zur politischenVeränderung ist dennoch nicht festzustellen.
Die Deutschen neigen dazu, es sich so lange im Stadium der Unvernunft gemütlich zu machen, bis es entweder zu spät ist oder die Realität sich gar nicht mehr leugnen lässt. Das war bei Corona der Fall, als Deutschland eines der letztenLänder war, das die Maßnahmen beendete. Bei der Migrationspolitik und bei der Energiepolitik war es genau so. Diegesamte Kanzlerschaft Angela Merkels steht symptomatisch für den deutschen Willen, sich sicher fühlen zu wollen, koste es was es wolle, zur Notauch die Wahrheit.
Es ist wirklich super, dass jetzt die große Mehrheit der Deutschen für Kernenergie ist. Als es darauf ankam, war aber die große Mehrheit der Deutschen gegen Kernenergie. Es ist wirklich super, dass jetzt die große Mehrheit der Deutschen gegen unkontrollierte Masseneinwanderung ist. Als es darauf ankam, war aber die große Mehrheit der Deutschen dafür. Und es wird wirklich super sein, wenn die große Mehrheit der Deutschen in fünf oder zehn Jahren den Staat als Problem und den Markt als Lösung identifiziert haben werden. Dann wird es aber zu spät sein, weil einmalabgewanderte Industrie genauso wenig zurückkommt wie ein Unternehmen, das wegen zu hoher Arbeits- und Stromkosten pleite gegangen ist.
In den USA verloren die Demokraten die Wahl, weil sie nur Wachstumsraten zwischen zwei und drei Prozent abliefernkonnten. In Deutschland wird mit Robert Habeck der Mann des Nullwachstums und der Rezession von zwangsfinanzierten Journalistinnen angeschmachtet. Seine Partei gewinnt in Umfragen dazu. Friedrich Merz will nicht ausschließen, ihn erneut zum Minister zu machen. Parteien, Medien und auch die deutschen Bürger überbieten sich in Realitätsleugnung. Der Ernst der Lage wurde nicht begriffen. Offensichtlich muss es diesem Land erst noch sehr vielschlechter gehen, bevor die Vernunft wieder eine Chance hat.
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